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Langer Kampf um Pflegegeld nimmt gutes Ende

Jürgen R. hat in seinem Büro in Markgröningen drei große Aktenordner aufgebaut. Zwischen den Deckeln finden sich Schriftsätze, Gutachten oder Anträge, die in den vergangenen Jahren zwischen ihm, der privaten Krankenversicherung UKV und dem Sozialgericht Heilbronn hin und her gegangen sind. „Die Angelegenheit hat mich einige Falten gekostet“, sagt Jürgen R. Heute kann er darüber schmunzeln. Weil sich seine Anstrengungen gelohnt haben. Doch danach sah es nicht immer aus.
Ludwigsburg. Seine Tochter ist gerade 15 Jahre alt, als sie 2007 einen Schlaganfall erleidet. Seit dem Unglück ist sie auf der rechten Seite gelähmt. Lange Distanzen kann die junge Frau, heute Mitte 20, nicht mehr zurücklegen. Sie ist auf intensive medizinische Betreuung angewiesen. Die Familie baut extra das Badezimmer für rund 15 000 Euro um, damit die Tochter einen ebenerdigen Zugang zur Dusche hat.

Die Krankenkasse macht am Anfang mit und gewährt der Tochter Pflegestufe II („schwer pflegebedürftig“). Doch schon bald steht der Markgröninger Familie Ärger ins Haus – als die Gutachterfirma Medicproof ins Spiel kommt. Das rheinische Unternehmen ist im Auftrag aller privaten Krankenversicherer unterwegs und untersucht die Pflegebedürftigkeit der betroffenen Versicherungsnehmer. Die UKV begründet das so: „Die Begutachtung durch eine Gesellschaft dient der Objektivität und Gerechtigkeit des Einstufungsverfahrens.“

Ist das wirklich so? Kurze Zeit später klingelt ein Gutachter in Markgröningen. Er will Jürgen R.s Tochter untersuchen. Auf einer Liste addiert der Mediziner die Minuten – für Körperpflege, Mobilität oder Hilfe bei der Ernährung. Unter dem Strich kommen 76 Minuten heraus, 14 zu wenig, damit seine Tochter wenigstens in Pflegestufe I („erheblich pflegebedürftig“) kommt. Die Entscheidung hat für die Familie Konsequenzen: Die Krankenversicherung stellt die Zahlungen ein.

Doch Jürgen R., der sich mit Versicherungen auskennt, denkt gar nicht daran, sich mit dem Ergebnis abzufinden. Er interveniert bei der Krankenkasse, die daraufhin über Medicproof immer neue Gutachter schickt. Jürgen R. erinnert sich: „Bei jedem Gutachter kam etwas anderes heraus.“ Nur am Endergebnis ändert sich nichts: kein Anspruch auf eine Pflegestufe. Warum auch? Medicproof ist auf Rechnung der privaten Krankenversicherung unterwegs.

Für Jürgen R. ist diese Konstellation immer noch kein Grund aufzugeben. Er trägt den Fall vor das Heilbronner Sozialgericht. „Ich hatte keine Hoffnung mehr auf eine außergerichtliche Einigung.“ Die Heilbronner Juristen geben sich anfänglich bedeckt. Eine Richterin schreibt ihm, dass das Gericht der Klage kaum Aussicht auf Erfolg einräumt. Es sei an das Gutachtenergebnis von Medicproof gebunden.

Bewegung kommt in die Auseinandersetzung, als der dritte Senat des Bundessozialgerichts in Kassel die Bindungswirkung von Pflegegutachten in den Fällen ändert, in denen ein privater Versicherungsvertrag besteht. Jetzt kann das Heilbronner Gericht aktiv werden. Es schickt im Januar 2016 eine (unabhängige) Gutachterin zur Familie R. nach Markgröningen, die feststellt, dass der Anspruch der Tochter auf Pflegestufe I sehr wohl begründet sei.

Vor Weihnachten bittet das Sozialgericht die Parteien zur Verhandlung nach Heilbronn – dazu wird es allerdings nicht mehr kommen. Kurz und bündig teilt die UKV mit, dass sie den Anspruch der Familie auf Pflegestufe I rückwirkend ab 2008 anerkennt. Jürgen R. sagt: „Ich bin froh, dass ich hartnäckig geblieben bin.“ Die Hauptsache betrachtet er nun als erledigt an. Offen ist bis heute noch, wie es mit Zinsen aussieht.

Zudem schwingt bei Jürgen R. ein Verdacht mit: dass eventuell weitere Gutachten von Medicproof im Umlauf sind, die andere Patienten ebenfalls benachteiligen. Einer, der sich in der Szene auskennt, sagt unserer Zeitung: „Die Gutachten dieser Firma sind sicherlich nicht mehr der Weisheit letzter Schluss.“ Jürgen R. glaubt zwar nicht, dass Medicproof den Kassen Gefälligkeitsgutachten ausstellt. Er sagt aber: „Diese Gutachten haben nicht die notwendige Qualität, die sie haben müssten.“ Er kritisiert, dass die Medicproof-Experten in seinen Augen in ihrer „zu kurzen Ausbildung nicht das nötige Fachwissen erhalten, um beurteilen zu können, ob und wie Hilfe benötigt wird“. Besonders ist ihm ein Fall im Gedächtnis geblieben. „Einmal kam ein Gutachter zu uns und hat meiner Tochter die Hand gegeben“, sagt er. „Dann hat er geschaut, ob sie ein paar Schritte laufen kann. Das war es.“

Jürgen R. will künftig andere Betroffene beraten. Seine Tochter geht in eine Schule in Ludwigsburg und macht derzeit eine Ausbildung. „Sie hat in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht“, sagt der Vater. „An eine vollständige Genesung ist aber nicht zu denken.“