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Analyse
Auf permanentem Kriegsfuß - Erdogan und die Syrienoffensive

Erdogan spricht in Ankara
Könnte durch die Syrienoffensive innepolitisch durchaus gewinnen: der türkische Präsident Erdogan. Foto: Uncredited/Pool Turkish presidency Press Service/dpa
Ärger mit großen Regierungen, möglicherweise wieder mehr Anschläge im Land, eine weitere Lira-Krise am Horizont - die türkische Offensive gegen Kurdenmilizen in Nordsyrien scheint Erdogan nur Probleme zu bringen. Oder? Nein. Innenpolitisch könnte er durchaus gewinnen.

Istanbul (dpa) - Seit Mittwochnacht sind türkische Truppen in Nordsyrien und greifen kurdische Milizen an. Kurz danach begannen die Proteste.

Bundesregierung, EU-Staaten, der Nato-Chef - sie alle machten Recep Tayyip Erdogan die Hölle heiß. Innerhalb weniger Stunden hat sich der türkische Präsident im Ranking umstrittener Politiker wohl gleich um einige Plätze nach oben gearbeitet.

Gleichzeitig drohen der Türkei massive Risiken. Experten gehen davon aus, dass es wieder vermehrt Anschläge geben könnte, weil die kurdische Terrororganisation PKK sich in Solidarität mit den in Syrien angegriffen Kurden üben könnte. Die kurdische YPG-Miliz in Nordsyrien, die das Ziel der Offensive ist, hat Verbindungen zur PKK. Die letzten PKK-Anschläge in türkischen Großstädten gab es 2016.

Das andere große Risiko geht von Sanktionen der USA aus. Weitaus bescheidenere US-Sanktionen hatten die türkische Wirtschaft in einem anderen Streitfall vergangenes Jahr schon ins Unglück gestürzt und eine massive Währungskrise ausgelöst.

Es gibt verschiedene Thesen, wieso Erdogan sehenden Auges in eine Situation marschiert, die so viel Ärger bringt. Zum einen: Erdogan begibt sich schon fast reflexhaft auf den Kriegsfuß, wenn er sich bedrängt fühlt. Der regierungskritische Journalist Can Dündar hat im Dezember 2018 in einer Kolumne für «Die Zeit» beschrieben, wie Erdogan den Krieg als Mittel der Politik einsetzt. Militäreinsätze tauchen da mit schöner Regelmäßigkeit auf, und immer wieder in zeitlicher Nähe zu Wahlen. Krieg als Stimmenfänger. Die Feldherren-Pose als gesichtswahrende Maßnahme.

Eine Wahl steht für Erdogan bis 2023 nicht an. Auf Stimmenfang ist er trotzdem. Zuletzt hatten oppositionelle und internationale Medien - wenn es um Erdogan ging - vor allem über zwei Dinge berichtet: Machtverlust und die verkommende Wirtschaft unter seiner Führung.

Die Zahl der Arbeitslosen war innerhalb eines Jahres um mehr als eine Million gestiegen. Die Inflation lag zwischenzeitlich bei 25 Prozent - für einige Lebensmittel sogar bei rund 80 Prozent, dazu der Wertverlust der Lira, die sich nur teilweise erholte. Bei der Kommunalwahl im Frühjahr hatten die Menschen Erdogan abgestraft. Vor allem in Großstädten verlor seine Partei Zuspruch, verlor Bürgermeisterämter.

Seitdem rumort es auch in der eigenen Partei. Zwei Granden sind schon ausgetreten. Es ist die Rede von Splitterparteien und rivalisierenden Präsidentschaftskandidaten. Erdogan sah bei den seltener werdenden öffentlichen Auftritten in den vergangenen Wochen zunehmend müde aus.

Nun hat sich, über Nacht, das Bild geändert. Am vergangenen Mittwoch saß Erdogan in Ankara in einer Zentrale für den Militäreinsatz am Kopf eines langen spiegelnden Tisches, mit straffem Rücken, flankiert von Ministern - die Macht in Person. Erdogan, der Feldherr, ist zurück.

Der Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, Kristian Brakel, sagt es am vergangenen Donnerstag so: Ja, die internationalen Reaktionen seien verheerend. «Aber die Frage ist, ob Erdogan nicht trotzdem viel zu gewinnen hat.» In einer Zeit, in der er angeschlagen sei und ihm Unterstützung wegbreche, habe er es geschafft, die Narrative in eine Ecke zu lenken, in der - fast - alle Parteien sich hinter ihm versammeln müssten. In der Türkei ist Unterstützung für die eigenen Soldaten moralische Pflicht.

Im Parlament hatten bei der offiziellen Bekanntgabe des Beginns der Offensive fast alle Angeordneten geklatscht. Selbst die größte Oppositionspartei CHP gab der Offensive ihren Segen. Nur die pro-kurdische HDP verurteilte den Einsatz als Besatzung. Sie könnte durch diese Offensive isoliert werden. Dabei hatten die CHP und die HDP während der Kommunalwahl im Frühjahr zum ersten Mal erfolgreich eine Wahlallianz gebildet und so Erdogans AKP das Bürgermeisteramt von Istanbul abgejagt, das wichtigste des Landes. Es erschien wie ein vielversprechendes Rezept, Erdogan auch bei zukünftigen Wahlen zu schlagen.

Brakel macht darauf aufmerksam, dass es für die CHP schwer werden könnte, die «stille Allianz» mit der HDP fortzuführen, sollte das Offensiventhema die HDP isolieren und außerdem noch die PKK wieder Anschläge im Land verüben. Für Erdogan wäre mit der Schwächung dieser Allianz mit einem Schlag eine große Gefahr vom Tisch.