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EU-Gipfel in Versailles
EU-Staaten ringen um Kurs in Russland-Krise

EU-Gipfel in Versailles
In einer langen Nacht haben die EU-Staaten nach einem gemeinsam Kurs in der Russland-Krise gesucht. Foto: Eric Lalmand
Je länger der Krieg Russlands gegen die Ukraine dauert, desto größer werden auch die Differenzen innerhalb der EU. Bröckelt die Geschlossenheit?

Versailles. Bundeskanzler Olaf Scholz und die anderen Staats- und Regierungschefs der EU haben am ersten Tag ihres Gipfeltreffens im französischen Versailles rund acht Stunden über das weitere Vorgehen nach Russlands Angriff auf die Ukraine gerungen.

Dabei machten Länder wie Lettland deutlich, dass sie die deutsche Ablehnung eines Importstopps russischer Energie für nicht mehr tragbar halten. Zudem lagen die Meinungen darüber auseinander, wie mit dem Antrag der Ukraine auf einen schnellen EU-Betritt umgegangen werden soll. Auch hier stand Kanzler Olaf Scholz auf der Seite jener, die bremsen. Nach einer langen Gipfelnacht taten sich erste Risse in dem bislang geschlossen handelnden Staatenblock auf.

Bundeskanzler Scholz unter Druck

Unter Druck stand Scholz vor allem wegen seiner Ablehnung eines Einfuhrstopps für Öl, Gas und Kohle aus Russland. «Ich bin überzeugt, dass wir die Entscheidung treffen sollten, Energieimporte aus Russland zu stoppen, um (den russischen Präsidenten Wladimir) Putin zum Verhandlungstisch zu bringen und den Krieg zu beenden», sagte der lettische Premierminister Krisjanis Karins. Die Präsidentin des Europäischen Parlaments, Roberta Metsola, betonte, man müsse eine klare Botschaft senden und die russischen Exporte beschränken.

Beide stellten sich damit auf die Seite von Ländern wie Polen und Litauen, die sich bereits für einen solchen Schritt ausgesprochen hatten. Damit soll dem russischen Staat seine Haupteinnahmequelle für die Finanzierung des Kriegs gegen die Ukraine genommen werden. Schätzungen der Brüsseler Denkfabrik Bruegel zufolge geben die EU-Staaten zur Zeit täglich rund 420 Millionen Dollar (380 Millionen Euro) für russisches Gas aus, und knapp 400 Millionen Dollar (362 Millionen Euro) für Öl aus Russland. Das liegt vor allem daran, dass Länder wie Deutschland, Österreich und Ungarn erhebliche Teile ihres Energiebedarfs über Lieferungen aus Russland decken.

Scholz hatte dazu am Montag erklärt: «Die Versorgung Europas mit Energie für die Wärmeerzeugung, für die Mobilität, die Stromversorgung und für die Industrie kann im Moment nicht anders gesichert werden.» In Versailles sagte er, man bedenke bei den Sanktionen sehr präzise, wie man die russische Regierung davon überzeugen könne, dass sie den Krieg beendet. Gleichzeitig gehe es darum sicherzustellen, dass die Auswirkungen in Europa möglichst gering seien. «Diesen Kurs sollten wir auch weiter verfolgen.»

Unterstützung bekam Scholz von Österreichs Kanzler Karl Nehammer. «Österreich kann jetzt nicht sagen, wir verzichten auf russisches Erdgas, wir brauchen es», sagte der konservative Politiker in der Nacht zum Freitag nach dem ersten Gipfeltag. In der am frühen Freitagmorgen veröffentlichten Gipfel-Erklärung hieß es schließlich allgemein, man sei bereit, schnell mit weiteren Sanktionen zu handeln.

Differenzen in der Frage um eine EU-Aufnahme der Ukraine

Deutliche Spannungen zeigten sich beim Gipfel auch bei der Frage, wie mit dem ukrainischen Wunsch nach einer schnellen Aufnahme in die EU umgegangen werden soll. So erteilte der niederländische Premier Mark Rutte dem Anliegen eine klare Absage. «Einen beschleunigten Beitritt, so etwas gibt es nicht», sagte er. Sein luxemburgischer Kollege, Xavier Bettel, sagte, er sei kein Regelfetischist, aber es gebe Bedingungen für einen EU-Beitritt. Bundeskanzler Scholz äußerte sich ähnlich. «Es ist ganz wichtig, dass wir die Dinge, die wir ja auch in der Vergangenheit beschlossen haben, weiter verfolgen», sagte er.

Der slowenische Regierungschef Janez Jansa sprach nach dem ersten Gipfel-Tag davon, dass die Meinung gespalten gewesen sei. Die Mehrheit sehe, dass die Ukraine im Krieg sei und die Menschen um ihr Leben kämpften, andere debattierten noch immer über das Verfahren. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach in der Nacht zum Freitag mit Blick auf die Beitrittsfrage gar von der «finalen Prüfung für Europa». Er glaube, «dass unser Volk, unser Staat, unsere Armee bereits alles getan haben, damit sie uns dort unter Gleichen sehen, uns dorthin einladen», sagte er in einer Videobotschaft.

Konkrete Zusagen werden der Ukraine in der Abschlusserklärung allerdings nicht gemacht. Stattdessen heißt es nur, die Ukraine gehöre zur europäischen Familie. Dabei hatten auch Länder wie Estland und Litauen eindringlich dafür geworben, Kiew mehr entgegenzukommen.

Mehr Waffenlieferungen aus der EU

Stattdessen könnten die ukrainischen Streitkräfte weitere Waffen und Ausrüstung aus der EU bekommen. Nach Angaben von EU-Ratspräsident Charles Michel schlug der Außenbeauftragte Josep Borrell den Staats- und Regierungschefs beim Gipfel vor, für zusätzliche Lieferungen 500 Millionen Euro zu mobilisieren. Ein erstes Paket über 500 Millionen Euro war bereits Ende Februar bewilligt worden.

Aufwirkungen des Kriegs auf europäische Wirtschaft

Ein weiteres brisantes Thema beim zweitägigen Gipfel ist der Umgang mit Auswirkungen des Krieges auf die wirtschaftliche Entwicklung in der EU. So hat Frankreich die Idee ins Spiel gebracht, wie schon in der Corona-Krise ein schuldenfinanziertes Unterstützungsprogramm zu beschließen. Dieses könnte demnach helfen, die Folgen des aktuellen Energiepreisanstieges abzufedern, aber auch Investitionen in Verteidigungsprojekte zu fördern. Länder wie Deutschland und die Niederlande halten dies zum derzeitigen Zeitpunkt für nicht notwendig und verweisen darauf, dass erst einmal das 800 Milliarden Euro schwere Corona-Hilfspaket aufgebraucht werden sollte.

Der italienische Ministerpräsident Mario Draghi zeigte sich hingegen offen für den französischen Vorschlag. «Italien und Frankreich sind auch auf dieser Front vollständig auf einer Linie», sagte Draghi.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kündigte beim Gipfel an, eine vorübergehende Deckelung der Energiepreise vorzuschlagen zu wollen. Es geht demnach darum, die «Ansteckungseffekte» zwischen den Gaspreisen und den Strompreisen zu begrenzen.

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