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Migration von Waldrappen
«Kommt, Waldis»: Wie ein seltener Vogel das Fliegen lernt

Waldrapp
Ein junger Waldrapp sitzt während einer Trainingspause auf einer Wiese. Foto: Felix Kästle/dpa
Der Waldrapp ist fast ausgerottet. Nun soll er in Europa wieder heimisch werden. Doch in Zoos geschlüpfte Küken fehlt der innere Kompass. Nun sollen sie lernen, einem Ultraleichtflieger zu folgen.

Überlingen (dpa) - Das Fliegen klappt schon ganz gut. Zu gut vielleicht, denn der Vogelnachwuchs ist verschwunden. Eben noch kreisten 31 schwarzgefiederte Waldrappe über einem Maisfeld nahe der Bodenseestadt Überlingen. Nun ist dort nur noch ein kleines Ultraleichtflugzeug mit gelbem Gleitschirm zu sehen.

«Kommt, kommt, Waldis, kommt», schallt die Stimme der Co-Pilotin an diesem Julimorgen über die Äcker. Wenn die Vögel, zärtlich Waldis genannt, auf irgendjemanden hören, dann auf die blonde Frau mit dottergelbem Pulli und Lippenpiercing. Anne-Gabriela Schmalstieg ist ihre Ersatzmama. Sie soll die in Zoos geschlüpften Waldrappe mit dem Flugzeug über die Alpen ins Winterquartier in der Toskana führen. Zwar sind Waldrappe Zugvögel, doch ohne Hilfe orientierungslos. Ältere Vögel zeigen ihnen den Weg - oder eben der Mensch.

Auf den ersten Blick braucht es schon ein Mutterherz, um den Waldrapp lieb zu gewinnen. Der Ibisvogel ist etwa so groß wie eine Gans, würde den Schönheitswettbewerb gegen sie aber verlieren: Sein Schädel ist kahl bis auf einen wirr abstehenden Federschopf, bedrohlich lang neigt sich sein schlanker Schnabel nach unten.

Nach fünf Minuten folgt der erste Vogel dem Rufen von Schmalstieg. Ein schwarzer Schatten taucht neben dem Leichtflugzeug auf, dann ein zweiter, dritter. «Alle Vögel da», funkt sie ans Bodenteam.

Waldrappe am Bodensee - das hat es seit rund 400 Jahren nicht mehr gegeben. In Europa waren sie ausgerottet. Zum Verhängnis wurde den Vögeln vor allem ihre Zutraulichkeit - und wohl auch, dass sie gut schmecken. Seit 2002 gibt es Bestrebungen, den Waldrapp wieder anzusiedeln.

Die Vorlage für das Artenschutzprojekt am Bodensee lieferte unter anderem der an eine wahre Geschichte angelehnte Film «Amy und die Wildgänse». Darin päppelt ein junges Mädchen Gänse auf und führt sie mit einem Flugzeug in den Süden.

Seit Mitte Mai wohnen Schmalstieg und eine zweite Ziehmutter mit den wenigen Wochen alten Vögeln in der Nähe von Überlingen. Bis zu zwölf Stunden täglich verbringen sie mit ihren Zöglingen in einer großen Voliere. Das zweite Jahr in Folge versuchen sie hier, Jungvögel an die Gegend und vor allem an das Fluggerät zu gewöhnen. Dabei halten sie das aufgedrehte Waldrapp-Weibchen Caramba, der anhängliche Rowdie, der fotogene Fridolin auf Trab.

«Sie werden uns ein Leben lang als Zieheltern erkennen», sagt Schmalstieg. Wie stark ihre Beziehung ist, entscheidet über den Erfolg des Projekts. Denn der steht und fällt damit, ob die Waldrappe ihren Ersatzeltern folgen werden.

Der Ausflug an diesem Morgen stimmt zuversichtlich. Nachdem die Waldrappe sich dem Fluggerät angeschlossen haben, lassen sie sich bereitwillig zu einer zehn Kilometer entfernten Wiese lotsen.

Vom Rand aus verfolgt auch der Pilot das Schauspiel. Johannes Fritz leitet das Waldrapp-Projekt und hat eigens dafür seinen Pilotenschein gemacht. «Sie sind noch etwas eigenwillig, aber das lief schon gut.» Der 51 Jahre alte Verhaltensbiologe wird den Vogelzug über die Alpen steuern und weiß um die Gefahren. Die meisten Waldrappe sterben durch einen Stromschlag oder werden in Italien illegal abgeschossen.

«Wir haben hier die einmalige Chance, eine fast ausgestorbene Art wieder anzusiedeln», erzählt Ornithologe Peter Berthold, langjähriger Leiter der Vogelwarte am Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell (Kreis Konstanz), der die Ansiedlung am Bodensee mit initiiert hat. Der Waldrapp sei derart bedroht, dass es ohne menschliches Zutun bereits in fünf Jahren weltweit keine freilebenden Tiere mehr geben könnte. Projektleiter Fritz ist optimistisch, im nächsten Jahr 120 freilebende Tiere in Europa zu zählen. Von Mitte August an sollen Fridolin und Co. ins etwa 1000 Kilometer entfernte Winterquartier begleitet werden.

Infos zum Waldrapp-Projekt