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Alkoholsucht: Experten fordern «Prävention vor Abmahnung»

Alkohol am Arbeitsplatz
Eine Person zieht einen Flachmann zwischen Ordnern hervor. Foto: Marijan Murat
Mitarbeiter mit Alkoholproblemen sind häufiger krank, bauen mehr Unfälle und können das Betriebsklima verschlechtern. Alkoholsucht ist nicht nur ein persönliches Problem, sondern auch ein wirtschaftliches.
Stuttgart.

Stuttgart (dpa/lsw) - Alkoholmissbrauch ist in Baden-Württemberg ein wachsendes Problem und kommt die Volkswirtschaft teuer zu stehen. Davor warnten Suchtexperten und Krankenkassenvertreter am Montag in Stuttgart anlässlich einer bundesweiten Aktionswoche zum Thema Alkohol. «Ohne übermäßigen Alkoholkonsum oder Alkoholprobleme wäre in vielen Betrieben die Arbeitsqualität besser, die Gefahr von Arbeitsunfällen geringer und das Arbeitsklima entspannter», betonte der Vorsitzende der Landesstelle für Suchtfragen, Oliver Kaiser.

Fünf Prozent der Beschäftigten seien suchtgefährdet und bei jedem fünften Arbeits- und Wegeunfall sei Alkohol im Spiel. Der volkswirtschaftliche Schaden durch Arbeitsausfälle, Frühverrentung oder Rehabilitationen summiere sich in ganz Deutschland auf rund 30 Milliarden Euro jährlich.

Der Landesgeschäftsführer der Krankenkasse Barmer, Winfried Plötze, warnte, Alkoholmissbrauch werde zum wachsenden Problem. Bei rund 74 000 Baden-Württembergern im Alter von 15 bis 64 Jahren wurde 2017 eine Alkoholabhängigkeit diagnostiziert - gegenüber 62 000 im Jahr 2010. Die Erhebung beruht auf den Daten von vier Millionen Versicherten. Für die Firmen bedeutet das hohe Ausfallzeiten: Beschäftigte, bei denen eine Alkoholabhängigkeit diagnostiziert wurde, fehlten 2017 laut Plötze 60 Tage krankheitsbedingt - das waren 39 Fehltage mehr, als bei Kollegen ohne Alkoholabhängigkeit.

Es gebe in Betrieben Angebote wie Rückenschule und Yoga - aber das Thema Alkohol bleibe ausgespart, beklagte Kaiser. Dabei seien die Folgen auf die Gesundheit enorm: «Wir haben Alkohol unter den Top 10 der Stoffe, die Krebs erzeugen. Wir haben über 200 Krankheiten, für die ursächlich der Alkoholmissbrauch ist.» Rund 1500 Menschen würden pro Jahr in Baden-Württemberg durch die Folgen von Alkohol sterben.

Die Krankenkasse Barmer habe im vergangenen Jahr 1000 Maßnahmen zur Gesundheitsförderung in baden-württembergischen Betrieben durchgeführt, so Plötze - aber keine einzige davon zu Alkohol. «Weil das von den Betrieben leider nicht nachgefragt wurde.» Er erklärte sich das vor allem mit dem Stigma, das dem Thema anhafte: «Können Sie sich vorstellen, was intern in der Firma auch für Gespräche beginnen: Was, du gehst jetzt da hin? Hast du ein Problem mit Alkohol?» Das betreffe vor allem kleine und mittelständische Unternehmen.

Beim Unternehmen Bosch wurde das Thema vor mehr als 30 Jahren zum ersten Mal in einer Betriebsvereinbarung berücksichtigt. «Wir geben den Mitarbeitern Hilfsangebote. Das heißt, eine Entgiftung zu machen, eine Rehabilitation zu machen», so Michaela Noe-Bertram, Leiterin der betrieblichen Sozialberatung im Unternehmen. Deutschlandweit gebe es 75 Ansprechpartner für Suchtprävention. «Wir haben Handlungsleitfäden entwickelt für Führungskräfte. Wir schulen auch: Wie spreche ich meinen Mitarbeiter an? Wie sprechen Kollegen Kollegen an?»

Oliver Kaiser von der Landesstelle für Suchtfragen betonte: «Wegschauen ist genau die falsche Lösung, weil wir wissen, dass grad im Betrieb Menschen für Alkoholprävention zu erreichen wären.» Das Grundmotto laute: «Prävention vor Abmahnung. Da muss man rechtzeitig hinschauen, frühzeitig intervenieren, um sozusagen den Arbeitsplatzverlust zu verhindern.»

Die Erfahrung von Suchtberatern bestätigt diese These. «Die Menschen kommen sehr, sehr selten freiwillig zu uns. Es braucht immer jemanden, der den Impuls gibt. Das sind in der Regel Angehörige, oder der Arzt oder eben der Arbeitgeber», erzählte Stefan Ulrich von der Evangelischen Gesellschaft. Der Suchtberater aus Stuttgart appellierte an Arbeitgeber, im Betrieb transparent mit dem Thema umzugehen und auf Hilfsmöglichkeiten hinzuweisen - aber auch einzufordern, dass sie wahrgenommen werden. «Es ist kein Makel, es ist eine Krankheit. Es gibt Hilfsmöglichkeiten und umso früher die genutzt werden, umso höher ist die Erfolgsquote.»

Die Suchtberatungsstellen im Südwesten bieten spezielle Präventionsprogramme für Betriebe. Seit 2017 gibt es auch eine Hotline - dort könnten sich Chefs wie Mitarbeiter vertraulich beraten lassen, so Kaiser. Aber auch die Politik sei gefordert, betonte er: Höhere Preise, wie etwa in skandinavischen Ländern, seien ein probates Mittel, um den Konsum zu reduzieren.