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Pandemie-Politik
Corona-Expertenrat empfiehlt Vorbereitungen für Herbst

Expertenrat
Christian Karagiannidis (l), ARDS und ECMO Zentrum Köln-Merheim, und Heyo Kroemer, Vorsitzender des Corona-ExpertInnenrats und Vorstandsvorsitzender der Charité - Universitätsmedizin Berlin, nehmen an einer Pressekonferenz teil. Foto: Wolfgang Kumm
Marco Buschmann
Zeit, «um ein ganz geordnetes, reguläres Gesetzgebungsverfahren zu durchlaufen»: Bundesjustizminister Marco Buschmann. Foto: Wolfgang Kumm
Schwere Covid-Verläufe, hohe Belastung der Kliniken - so könnte sich die Pandemie im Herbst laut Expertenrat der Regierung im ungünstigen Fall entwickeln. Doch die Ampel setzt unterschiedliche Schwerpunkte.

Berlin. Der Corona-Expertenrat der Bundesregierung empfiehlt eine Rechtsbasis für schnelle Reaktionen auf mögliche steigende Infektionszahlen in Herbst und Winter.

Die Expertinnen und Experten erwarten eine erneut erhebliche Belastung des Gesundheitssystems und der für Bevölkerung und Staat kritischen Infrastruktur. Das seit Dezember im Auftrag von Bund und Ländern arbeitende Gremium legte seine elfte Stellungnahme vor, während sich in der Koalition erneut deutliche Differenzen über den künftigen Corona-Kurs abzeichnen.

So beginnt das Bundesgesundheitsministerium derzeit mit den Vorbereitungen für eine Rechtsbasis für Corona-Maßnahmen im Herbst, wie ein Sprecher bekräftigte. Minister Karl Lauterbach (SPD) betonte, die Stellungnahme werde «Basis für den Corona-Herbstplan der Bundesregierung». FDP-Chef Christian Lindner hatte am Dienstagabend in der ARD dagegen gesagt, eine geplante Beurteilung von Schutzmaßnahmen solle abgewartet werden: «Freiheitseinschränkungen pauschal sollte es nicht mehr geben.»

Was der Rat empfiehlt:

Eine «vorausschauende Vorbereitung mit kurzen Reaktionszeiten» für Herbst und Winter. In jedem Fall erfordere die Vorbereitung unter anderem «eine solide rechtliche Grundlage für Infektionsschutzmaßnahmen». Die Expertinnen und Experten stellen fest: «Die verbleibende Impflücke und die abnehmende Immunität im Laufe der Zeit, die fortschreitende Virusevolution und die Krankheitsaktivität durch andere Atemwegserreger werden das Gesundheitssystem und die kritische Infrastruktur im Herbst/Winter wahrscheinlich erneut erheblich belasten.»

Was das Beratungsgremium allen ins Stammbuch schreibt:

Gefordert wird Einheitlichkeit - nämlich eine zentrale Koordination der Pandemiemaßnahmen zwischen Bund und Ländern und eine bundesweit möglichst einheitliche und schnelle Kommunikation aller bestehenden Regelungen und Empfehlungen. Die Expertinnen und Experten plädieren auch dafür, dass Patientinnen und Patienten ambulant früher als bisher antivirale Medikamente erhalten. 

Wie sich der Rat die Corona-Tests künftig vorstellt:

Bei stabiler Infektionslage sollen die Tests auf symptomatische Fälle, begründete Verdachtsfälle sowie auf den Schutz von Risikogruppen begrenzt werden. Für den Herbst soll es nach dem Willen des Rats eine schnell reaktivierbare Testinfrastruktur geben. Für Krankenhäuser und Pflegeheime schlägt der Rat ein regelmäßiges Screening auf Corona- und Grippeviren vor.

Wie der Rat die Lage im Herbst einschätzt: 

Ausgehend von einem hohen Immunisierungsgrad in der Bevölkerung und dem Auftreten von Virusvarianten mit verringerter Krankheitsschwere entwerfen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler drei Szenarien: Ungünstig, aber möglich wäre eine neue Virusvariante - verstärkt übertragbar und mit erhöhter Krankheitsschwere. Schwere Covid-Verläufe könnten dann selbst bei Geimpften ohne Zusatzimpfung auftreten. Maskenpflicht und Abstandsgebote wären wohl wieder bis Frühjahr 2023 nötig. Bedarf für Kontaktbeschränkung wäre «denkbar», aber nicht wahrscheinlich, so der Ratsvorsitzende Heyo Kroemer. «Die Pandemie ist definitiv nicht vorbei», so der Berliner Charité-Chef. Ein günstiges Szenario und ein Basisszenario hätte laut dem Rat weniger gravierenden Auswirkungen.

Warum noch auf einen anderen Expertenrat gewartet wird:

Die FDP pocht darauf, erst eine geplante wissenschaftliche Bewertung bisheriger Beschränkungen abzuwarten, «bevor wir uns auf einzelne Maßnahmen vorschnell festlegen», wie Justizminister Marco Buschmann (FDP) bereits Ende Mai gesagt hatte. Die Aufgabe der Evaluation ist gemäß Infektionsschutzgesetz einem Sachverständigenausschuss zugedacht. Die jeweils zur Hälfte von der Bundesregierung und vom Bundestag benannte Expertinnen und Experten sollen ihr Ergebnis bis 30. Juni vorlegen.

Warum es um das Evaluierungsgremium Wirbel gab:

Für Aufsehen hatte im April gesorgt, dass sich der Berliner Virologe Christian Drosten aus dem Gremium zurückzog. Drostens Grund: Ausstattung und Zusammensetzung des Gremiums reichten nicht für eine hochwertige Evaluierung. Im Expertenrat von Bund und Ländern ist Drosten dagegen weiter Mitglied. Die «Süddeutsche Zeitung» berichtete, ein Entwurf für die Evaluierung werde «in Fachkreisen bereits verrissen». Im Kapitel zu den Corona-Maßnahmen würden negative Folgen überbetont. Der Vorsitzende des Expertenrats, Kroemer, wollte dem Bericht des Evaluierungsgremiums nicht vorgreifen: Zwar sei der Rat der Überzeugung, «dass der Staat entsprechende Werkzeuge aus unserer Sicht braucht» - aber welche, «darüber setzen sich andere auseinander», so Kroemer.

Wie die Ampel reagiert:

Lauterbach sagte: «Der Expertenrat hat exzellente Arbeit geleistet.» Dass selbst im günstigsten Fall das Gesundheitswesen stark belastet sein werde, sei relativ sicher. «Auf alle Szenarien müssen und werden wir vorbereitet sein: mit angepassten Test-, Impf- und Behandlungsstrategien sowie mit einem soliden gesetzlichen Rahmen.» Die FDP-Gesundheitsexpertin Christine Aschenberg-Dugnus bewertete die Stellungnahme als Forderung eines «Strategiewechsels». «Denn nach über zwei Jahren Pandemie wissen wir, dass es keine pauschalen Maßnahmen geben darf.» Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann sagte dagegen, die Stellungnahme mache deutlich: «Wir müssen auf einen weiteren Anstieg des Corona Infektionsgeschehens im Herbst vorbereitet sein. Dafür sollten wir Vorsorge treffen und zwar jetzt.»

Was dem Expertenrat besonders wichtig ist:

Langfristige Verbesserungen - nämlich bei Datenanalyse und Prognose, bei Verhaltensmanagement und Kommunikation sowie bei Prävention. So sagte der Intensivmediziner Christian Karagiannidis, man wolle weg kommen von der Betrachtung der 7-Tages-Inzidenz und hin zu einem digitalen Echtzeitbild unter Einbeziehung der tatsächlichen Krankheitsschwere. Ratsvorsitzender Kroemer sagte, er rechne damit, dass einzelne Teile der Stellungnahme «sehr zeitnah Realität werden», strukturelle Vorschläge eher Schritt für Schritt.

Gremium zur Evaluierung

ExpertInnenrat

© dpa-infocom, dpa:220608-99-584676/4