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Politik am Abgrund
Wie sich Thüringen zur nächsten Wahl schleppt

Zwei Jahre nach der Wahl von Thomas Kemmerich zum Regierungschef
Björn Höcke (r), AfD Thüringen, gratuliert dem neuen Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich (FDP). Foto: Bodo Schackow/dpa-Zentralbild/dpa
Die Wahl eines FDP-Politikers zum Ministerpräsidenten mit AfD-Hilfe in Thüringen stürzte das Land in eine Krise. Die rot-rot-grüne Regierung muss nun bei jeder Entscheidung die Opposition fragen.

Erfurt (dpa) - Regieren als Dauerkompromiss: Bodo Ramelows rot-rot-grüner Regierung in Thüringen fehlen vier Stimmen im Landtag - seit fast zwei Jahren. Sie wird weder toleriert noch geduldet, ein recht ungewöhnliches politisches Konstrukt in der Geschichte der Bundesländer.

Alle Entscheidungen sind Verhandlungssache mit der oppositionellen CDU, die vor Ramelow über Jahrzehnte die Ministerpräsidenten in Thüringen stellte und sich jetzt als Reformpartei gefällt. Begonnen hat das politische Dilemma mit einem Tabubruch am 5. Februar 2020, als sich der FDP-Politiker Thomas Kemmerich mit Hilfe der AfD zum Ministerpräsidenten wählen ließ.

Bundesweit schlug der Vorfall hohe Wellen, es gab sogar Demonstrationen, weil die AfD das Thüringer Parlament mit einem Pseudokandidaten austrickste, um schließlich Kemmerich zu wählen. Der trat nach öffentlichem Druck drei Tage später zurück. Am 4. März wurde der Linke-Politiker Ramelow zum zweiten Mal nach 2014 Ministerpräsident. Linke, SPD, Grüne und die CDU versprachen sich vorgezogene Neuwahlen, doch zu der dafür nötigen Landtagsauflösung kam es im Sommer 2021 nicht - die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit blieb unsicher.

Heikle Entscheidung steht an

Nun steht für Rot-Rot-Grün wieder eine heikle Entscheidung an - der Haushalt für 2022 soll Ende dieser Woche im Landtag beschlossen werden. Vorausgegangen ist ein monatelanges Tauziehen. Ausgehandelt wurde schließlich eine Regelung, die der Minderheitskoalition weh tut.

Die CDU verdonnerte die Regierung, im Laufe des Jahres 330 Millionen Euro an geplanten Ausgaben einzusparen. «Das ist das schlechteste Mittel, um einen Haushalt zu konsolidieren», stöhnte Linke-Fraktionschef Steffen Dittes. Nicht das Parlament entscheide, wo der Rotstift angesetzt werde, sondern die Ramelow-Regierung.

Hinter vorgehaltener Hand ist von einem «enormen Erpressungspotenzial» die Rede, mit dem Rot-Rot-Grün umgehen müsse. Die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Astrid Rothe-Beinlich spricht diplomatisch von «Kompromissen, die uns schwer gefallen sind».

SPD-Fraktionschef Matthias Hey bemüht einen Vergleich, um die Lage zu illustrieren: Politik in Thüringen, das sei wie eine Wohnung zu unterhalten, für die man zwar Miete und Betriebskosten bezahlen könne, für die «aber eine dringend notwendige Renovierung nicht möglich ist». Hey spricht von einem «Schwebezustand». Und dieser könnte noch länger anhalten.

Parlamentskrise statt Regierungskrise

Was als zeitlich begrenztes Politik-Projekt angelegt war, scheint sich zu einem Langzeitexperiment bis zur nächsten regulären Landtagswahl 2024 zu entwickeln. An die Stelle der Regierungskrise rückte eine Parlamentskrise.

Hey sagt, die Situation sei «lähmend», Entscheidungen im Parlament dauerten jetzt länger, teils blieben sie auch ganz aus. Allein im Bildungssektor liegen zwischen den Vorstellungen von Rot-Rot-Grün und der CDU oft Welten. Eine grundlegende Umstellung der Lehrerausbildung, wie es sich Linke, SPD und Grüne wünschen, wurde bereits abgeblasen. Während der Thüringer Landtag im Jahr 2019 noch 49 Gesetzesentwürfe verabschiedete, waren es 2020 noch 30 und vergangenes Jahr nur 26.

Vertreter der Thüringer Linken argumentieren gern, dass Minderheitsregierungen in anderen Ländern etabliert seien und gut funktionierten - etwa in Schweden. Der Erfurter Politologe André Brodocz dagegen weist auf Unterschiede hin. «Ich glaube, dass unsere politische Kultur mit einer stärkeren Gegenüberstellung von Regierung und Opposition ein Stück weit weniger gut für solche Regierungsformen geeignet ist», sagt Brodocz. In Thüringen zeige sich, dass Entscheidungsprozesse langsamer und der Gestaltungsspielraum der Regierung geringer werde.

Linke-Fraktionschef Dittes sieht in der anstehenden Haushaltsentscheidung einen Beleg dafür, dass Parlament und Regierung trotz aller Schwierigkeiten arbeitsfähig seien. Brodocz räumt ein, dass er nicht gedacht hätte, dass das überhaupt gelingt. Der Preis sei: «Wenig Gestaltungsspielraum, kaum große Reformen.»

Und Ministerpräsident Ramelow? Er ist seit einigen Monaten weniger präsent als früher. Der Grund: Ramelow ist für ein Jahr Bundesratspräsident - eine Aufgabe, bei der es auch ums Vermitteln geht - zwischen den politischen Lagern und den Interssen der Bundesländer in West- und Ostdeutschland. Sein Credo: «Trenndes überwinden».

© dpa-infocom, dpa:220202-99-940424/2