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Bildung
Durchlässigkeit: Reform bei Hauptschulabschluss gefordert

Schule
Stühle stehen in einem Klassenzimmer auf den Tischen. Foto: Sebastian Kahnert
Die Realschulen sind die «Sandwich-Schulen» im Land: Sie nehmen mögliche Hauptschüler ebenso auf wie überforderte Gymnasiasten. Darunter leidet das Niveau der Realschulen, sagen die Lehrkräfte dort. Und fordern fast durch die Bank eine Reform des Systems.

Stuttgart. Spricht Dirk Lederle von seinem Sorgenkind in der Heitersheimer Realschule, dann ist ihm der Ärger über das Schulsystem in Baden-Württemberg anzumerken. Der Junge geht in die 5. Klasse der Schule, die Lederle leitet, aber er gehört dort eigentlich nicht hin. «Er ist völlig überfordert, frustriert und faktisch gesehen nicht mehr zu unterrichten», klagt Lederle. Es gebe immer wieder Kinder, die von Beginn an zur Realschule gingen, die aber nur Fünfen und Sechsen schreiben. «Die Zeugnisse sehen dementsprechend aus», sagt Lederle. «Das vertragen Kinder nur eingeschränkt, denn Misserfolg demotiviert extrem. Wenn sie das als Lehrkraft oder Schulleiter mitangucken müssen, dann blutet ihnen das Herz.»

Verantwortlich für die Misere ist aus Sicht Lederles und des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) eine Reform der Realschulen, die den Zweig seit Jahren für den Hauptschulabschluss öffnet. Nach einer VBE-Umfrage sorgen sich fast alle Lehrkräfte in den baden-württembergischen Realschulen deshalb um überforderte Kinder wie den Heitersheimer Jungen und würden den Hauptschulabschluss lieber heute als morgen wieder loswerden. Neun von zehn Lehrerinnen und Lehrer sprechen sich demnach dafür aus, den Hauptschulabschluss an der Realschule abzuschaffen und der Grundschulempfehlung wieder mehr Gewicht zu verleihen.

Den Hauptschulabschluss können Schüler an unterschiedlichen Schulformen erwerben. Hauptschüler können auf dem Weg zum Abschluss «grundständig», also auf einem einfacheren Niveau (G-Niveau), unterrichtet werden. Der Unterricht an Realschulen erfolgt dagegen in den ersten zwei Schuljahren auf einem «mittleren Niveau» - unabhängig davon, welcher Schulabschluss später angestrebt wird. Für viele Mütter und Väter ist es aus Sicht der Realschulen aber attraktiver, von der Grundschulempfehlung abzuweichen und ihr leistungsschwächeres Kind auf die Realschule und nicht auf die eigentlich passende Haupt- oder Werkrealschule zu schicken.

Das unter dem damaligen Kultusminister Andreas Stoch (SPD) beschlossene Angebot des Hauptschulabschlusses an der Realschule gilt seit dem Schuljahr 2016/17.

«Der Unterricht von G-Schülerinnen und -Schülern gemeinsam mit den anderen Realschülerinnen und -Realschülern in einer Klasse wird aus pädagogischen Gründen in Frage gestellt», sagte der VBE-Landesvorsitzende Gerhard Brand. Werde gleichzeitig auf beiden Niveaus unterrichtet, könne keines richtig bedient werden. Ergebnis: die einen würden überfordert, die anderen nicht ausreichend gefördert. Das System werde den Kindern nicht gerecht und sei arbeitsintensiv.

Realschulen sind in Baden-Württemberg in einer Art Sandwich-Position: Sie sind Auffangbecken für die Schüler, die an eine der Hauptschulen gegangen wären, die zunehmend geschlossen werden. Sie können dort ihren Hauptschulabschluss machen. Aber auch Gymnasiasten, die wegen Überforderung an die Realschule kommen, haben dort Chancen.

Der VBE fordert nicht nur, den Hauptschulabschluss an den derzeit knapp 480 öffentlichen und privaten Realschulen als Ausnahmefall zu sehen, wenn es in der Nähe keine Alternative gibt. Die gemeinsame Orientierungsstufe in den Klassen 5 und 6 - ohne Sitzenbleiber und auf schwererem M-Niveau - sollte auf ein Jahr verkürzt werden, spätestens nach Klassenstufe 5 müsste also das G-Niveau angeboten werden. Und Schulen, die einen G-Zug anbieten möchten, weil sie es sich leisten können, sollten aus Sicht des VBE unterstützt werden. «Die allermeisten Lehrkräfte sehen das bisherige Konzept als pädagogisch gescheitert an», sagte Brand.

Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) sieht bei der Orientierungsstufe ebenfalls «definitiv Handlungsbedarf». «Die Regelung in der Orientierungsstufe, dass nur auf Realschulniveau bewertet wird, ist demotivierend für einige Schülerinnen und Schüler, die durchgehend schlechte Noten bekommen», räumte sie ein. Sie sagte zu, Ideen des VBE zu überdenken.

Fast einhellige Zustimmung kommt auch von den Landtagspateien. Der Grünen-Koalitionspartner CDU unterstütze die Forderungen «ausdrücklich», sagte Bildungsexperte Alexander Becker. Die AfD sieht sich bestätigt: «Der Unterricht in der Realschule muss wie in allen Schulen auf einer Niveaustufe erfolgen», sagte der Abgeordnete Rainer Balzer. «Unterschiedliche Lernniveaus in einer Klasse lehnen wir ab.» Die FDP sprach von einem «deutlichen Alarmruf». Realschulen würden zum Sammelbecken für alle, gleich welche Begabung sie hätten. «Dann werden die Kinder in ihrem landesverfassungsmäßigen Recht, differenziert beschult zu werden, beschnitten», sagte FDP-Bildungspolitiker Timm Kern.

Schulleiter Lederle sieht allerdings auch die Eltern in der Pflicht: Ein Viertel der Kinder mit einer Empfehlung für die Werk- oder Hauptschule landeten auf der Realschule, nach Ministeriumsangaben ein Fünftel. «Die Eltern ignorieren die Empfehlung und wollen es dennoch ausprobieren.» Von diesen Kindern schafften es aber nur die Hälfte bis zum Abschluss. «Für die anderen ist die Realschule mit Enttäuschung und Frist verbunden.» Für Fälle wie sein Heitersheimer Sorgenkind wünscht er sich eine «Notausstiegsklausel» nach der 5. Stufe.

Statistik zur Zahl der Realschulen

© dpa-infocom, dpa:220623-99-774399/6