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Immer mehr Jüngere suchen psychotherapeutische Hilfe

Symbolbild - Junger Mann
Ein junger Mann steht mit Zigarette und Smartphone an einem Fenster. Foto: Fabian Sommer/dpa/Symbolbild
Erst vor wenigen Tagen haben Psychotherapeuten von der Politik einen stärkeren Schutz der Menschen vor psychischen Belastungen durch die Corona-Pandemie gefordert. Nun dürften sie sich durch neue Zahlen bestätigt sehen. Auffällig ist vor allem ein Trend bei den Jungen.
Stuttgart.

Stuttgart (dpa/lsw) - Angst haben sie oder sind krankhaft schwermütig, sie zappeln zu viel, essen zu wenig, andere verletzen sich selbst mit Rasierklingen oder können keine Freundschaften schließen. In Baden-Württemberg ist die Zahl der jüngeren Menschen, die wegen solcher oder ähnlicher Probleme die Hilfe von Psychotherapeuten in Anspruch genommen haben, in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Im Jahr 2019 haben sich fast 110 000 Menschen im Alter bis 24 Jahren helfen lassen, das sind 88 Prozent mehr als im Jahr 2009, wie aus dem jüngsten Arztreport der Krankenversicherung Barmer hervorgeht.

Unklar bleibt, ob dieser Anstieg auch auf eine steigende Zahl hilfsbedürftiger Jungen und Mädchen schließen lässt. Die Zunahme könne auch mit der gestiegenen Zahl der Mediziner sowie dem veränderten Bewusstsein von Ärzten und Patienten zusammenhängen, sagte die leitende Barmer-Medizinerin Ursula Marschall am Mittwoch bei der Vorlage des Reports. Außerdem scheiden die meisten nach der Sprechstunde bereits wieder aus der Hilfe aus. Rund 48 000 Kinder und junge Erwachsene erhielten darauf aufbauend eine Gesprächstherapie, das sind 18 Prozent mehr als im Jahr 2009. «Nicht immer ist eine langfristige Gesprächstherapie notwendig», sagte Marschall. «Auch kleinere Maßnahmen können etwas bewirken. Je früher diese eingeleitet werden, desto besser.»

Laut Arztreport 2021 sind Mädchen und junge Frauen zwar häufiger betroffen als Jungen, weil sie stärker unter Essstörungen oder Depressionen leiden. Allerdings hat sich die Zahl der psychotherapeutisch behandelten Jungen und jungen Männer in Baden-Württemberg zwischen 2009 und 2019 nahezu verdoppelt. Sie erreichte laut Arztreport im Jahr 2019 fast 50 000 (2009: 26 000). Einer der Gründe könnte die im vergangenen Jahrzehnt sehr oft diagnostizierte Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Daher würden Jungen häufig im Alter von zehn und elf Jahren behandelt, junge Frauen dagegen eher in ihren 20er Jahren.

Jeder fünfte Jugendliche hat zudem bereits Erfahrung mit Cybermobbing gemacht, indem zum Beispiel Gerüchte, Fotomontagen, Videos oder Beleidigungen über ihn auf den Sozialen Medien oder in Chats verbreitet wurden. «Natürlich wirkt sich das Digitale aus», sagte der baden-württembergische Barmer-Geschäftsführer Winfried Plötze. «Auch digitale Süchte sind ein großes Thema, zumal die Corona-Pandemie die sozialen Kontakte erschwert.»

Mehr Angebote, mehr Patienten? Das schließt die Krankenkasse nicht aus. Denn in Baden-Württemberg gibt es immer mehr Therapeuten - vor allem in Städten wie Freiburg und Heidelberg, weniger dagegen auf dem Land. Die Zahl der Psychotherapeuten für Kinder und Jugendliche, die mit der Barmer abrechneten, sei in sechs Jahren um 25 Prozent auf 768 gestiegen, teilte die Kasse mit.

Die Zahlen steigen nicht zuletzt auch, weil psychische Krankheiten in der Gesellschaft besser akzeptiert werden als früher, wie Marschall sagt. «Das dürfte auch dazu führen, dass sich immer mehr junge Menschen Hilfe suchen», sagte sie. Außerdem würden soziale und seelische Befindlichkeiten zunehmend in die Krankheitsdiagnosen einbezogen. «Gerade Rückenschmerzen gehen oft auf seelische Faktoren wie Angst oder die Sorge vor einem Verlust des Arbeitsplatzes zurück. Es ist wichtig, dass Patient und Arzt das erkennen.»

Die Pandemie und der Lockdown im Frühjahr 2020 haben sich nach Angaben der Barmer nicht auffällig niedergeschlagen. «Die Aussage, dass die Pandemie ein Defizit an Behandlungsplätzen verschärfe, kann anhand unserer Daten nicht bestätigt werden», sagte Plötze. Dies könne sich mit Blick auf den gesamten Verlauf der Pandemie und die kommenden Monate aber ändern. «Es gibt unter anderem Hinweise, dass Studienanfänger massiv darunter leiden, sich nicht austauschen und Netzwerke bilden zu können», sagte der Landesgeschäftsführer.

Auffällig sei auch das deutlich steigende Angebot von Videosprechstunden. Wurden sie im vierten Quartal 2019 von einem Dutzend Praxen im Südwesten angeboten, so waren es im Vergleichszeitraum des Jahres 2020 bereits 2013 Praxen.

© dpa-infocom, dpa:210428-99-385989/2

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