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Schulen
Zweifel am Recht auf Ganztag werden lauter

Schule
Stühle stehen in einem Klassenzimmer auf den Tischen. Foto: Sebastian Kahnert
Eltern in Baden-Württemberg haben in wenigen Jahren Recht auf eine Ganztagsbetreuung ihrer Kinder. Allerdings ist mehr als fraglich, ob das auch umgesetzt werden kann. Denn den Kommunen fehlt Geld und es fehlt das Personal. Zweifel am Rechtsanspruch werden immer lauter.

Stuttgart. Unter dem Druck von Fachkräftemangel und leeren Kassen stellen Städte und Gemeinden das Recht auf den Ganztagsanspruch bei der Kinder-Betreuung immer lauter in Frage. Der baden-württembergische Gemeindetag fordert nun erneut, den Anspruch zurückzustellen und stattdessen mehr in die Digitalisierung der Schulen zu investieren.

Bereits jetzt hätten die Kommunen keine Möglichkeit, mit den derzeitigen Haushaltsmitteln ihre Pflichtaufgaben zu erfüllen, sagte der Präsident des Gemeindetags, Steffen Jäger, den «Stuttgarter Nachrichten» und der «Stuttgarter Zeitung» (Dienstag). Es sei deutlich, dass es für viele wichtige Zukunftsthemen kein Geld mehr gebe. «Wir müssen uns Luft verschaffen für Zukunftsgestaltung. Das klappt nur, wenn wir Prioritäten setzen», sagte Jäger.

Die Gemeinden erteilten der Ganztagesbetreuung an den Grundschulen sicher keine generelle Absage. «Den Rechtsanspruch stellen wir aber in seiner Realisierbarkeit infrage», sagte der Verbandspräsident. «Denn de facto weiß niemand, wie dieser Anspruch erfüllt werden kann.»

Würde der Rechtsanspruch zurückgenommen, könnten sicher einige hundert Millionen Euro an Bundesmitteln umgeschichtet werden. «Ein kleiner Teil der Mittel sollte weiterhin in den Ausbau des bestehenden Ganztagsangebots fließen. Aber man hätte dann sicher auch Luft für die Digitalisierung der Schulen.»

Der baden-württembergische Städtetag sieht das ähnlich, will aber den vom Bund festgelegten, stufenweisen Rechtsanspruch ab dem Schuljahr 2026/2027 in den Grundschulen umsetzen, soweit das möglich ist. «Ob uns das vollständig gelingt, ist derzeit offen. Dazu braucht es vor allem die Umsetzung unserer Forderungen», sagte Norbert Brugger, Dezernent des Städtetags. Das Land müsse auf den Bund einwirken, sollten Korrekturen notwendig werden. Notwendig sei eventuell, die vorgegebene Betreuung in der Ferienzeit anzupassen. «Da könnte es als erstes Abstriche geben», sagte Brugger.

Zweifel haben auch die Unternehmen: «Die Einschätzung, dass der Rechtsanspruch auf Ganztagsschule schwer umsetzbar sein wird, scheint leider realistisch zu sein und ist zugleich sehr ernüchternd» sagte Stefan Küpper, Geschäftsführer Politik, Bildung und Arbeitsmarkt bei den Unternehmern Baden-Württemberg (UBW). Er warnte: «Fehlende Ganztagsangebote werden den Fachkräftemangel weiter verschärfen und vor allem das Werben um die besten Köpfe deutlich erschweren.» Der Vorsitzende des Verbands Bildung und Erziehung, Gerhard Brand, forderte die Politik zur ehrlichen Haltung auf: «Es nützt nichts, in dieser Frage weiter auf Zeit zu spielen, die Schulen brauchen einen realistischen Fahrplan», sagte er.

Bund und Länder hatten 2021 einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule beschlossen, der schrittweise eingeführt wird. Ab dem Schuljahr 2026/2027 greift die Regelung bei Kindern der 1. Klasse, ab 2029/2030 bei allen Klassen. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung hatte im vergangenen Sommer ergeben, dass für die Umsetzung bis Ende des Jahrzehnts mehr als 100.000 pädagogische Fachkräfte fehlen könnten.

Auch Baden-Württembergs Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) hatte den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung zuletzt als große Herausforderung bezeichnet. Zum beschleunigten Ausbau der Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder hatte Baden-Württemberg beim Bund nach Daten des Bundesfamilienministeriums für die Jahre 2021 und 2022 fast alle verfügbaren Gelder abgerufen: rund 96,4 von etwa 97,6 Millionen Euro.

© dpa-infocom, dpa:230124-99-341128/2