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Coronadebatte: Von Goldwaagen, Lernkurven und Windhundrennen

Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne)
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) nimmt an einer Plenar-Sondersitzung im Landtag teil. Foto: Marijan Murat/dpa
Eigentlich sollte die Corona-Krise aus dem Wahlkampf rausgehalten werden. Doch sieben Wochen vor der Landtagswahl gibt es kaum ein anderes Thema.
Stuttgart.

Stuttgart (dpa/lsw) - Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat die geplante Öffnung von Kitas und Grundschulen vom 1. Februar an verteidigt. Er sei überzeugt, dass diese Entscheidung «verantwortbar» sei, wenn die Infektionszahlen weiter sänken, sagte der Grünen-Politiker am Donnerstag im Landtag in Stuttgart. «Dabei gehen wir nicht mit der Brechstange vor, sondern mit Umsicht und Vorsicht.» Kretschmann betonte, der Beschluss von Bund und Ländern vom Dienstag lasse dies zu, man gehe keinen «Sonderweg».

Die Opposition hielt der grün-schwarzen Regierung in der Debatte vor, beim Impfen ein «Chaos» angerichtet zu haben und auf eine schrittweise Öffnung der Schulen völlig unvorbereitet zu sein. SPD-Fraktionschef Andreas Stoch warf Kultusministerin und CDU-Spitzenkandidatin Susanne Eisenmann vor, auf dem Rücken der Schülerinnen und Schüler Wahlkampf zu machen.

Kretschmann wies die Vorwürfe von sich, beim Corona-Management spiele der Wahlkampf eine Rolle. «Wenn ich in einer so elementaren Frage mitten in der tiefsten Krise seit Bestehen unseres Landes in solchen Kategorien denken würde, wäre das nicht zu verantworten.»

INFEKTIONSLAGE: Kretschmann verkündete: «Der Lockdown wirkt. Unsere Anstrengungen zahlen sich aus.» Dies sei ein sehr wichtiges Signal. Aber: Die neuen Virusvarianten aus Großbritannien und Südafrika könnten die Lage wieder verschärfen. «Die Mutationen sind sehr viel ansteckender als das bisherige Coronavirus.» Die Angaben der Experten schwankten zwischen 30 und 70 Prozent. Es sei keine Frage, «ob sie sich verbreiten, sondern wann und wie stark». Deshalb müsse der Lockdown bis zum 14. Februar fortgesetzt werden.

FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke warnte allerdings vor dauerhaften Freiheitsbeschränkungen. Die nächtlichen Ausgangssperren etwa seien unverhältnismäßig, sagte er. CDU-Fraktionschef Reinhart warf die Frage auf, ob man die Schraube immer fester ziehen könne. Abgeordnete der AfD hielten zu Beginn der Debatte Protest-Plakate hoch («Grundrechte sind nicht verhandelbar!») und sorgten damit für Unruhe. Fast alle AfD-Abgeordneten weigerten sich zudem, im Plenum eine Maske zu tragen.

SCHULE: Es werde nur eine schrittweise Öffnung bei den Grundschulen geben, sagte Kretschmann. Höchstens die Hälfte einer Klasse könne zur selben Zeit unterrichtet werden. Die Fasnachtsferien vom 15. Februar an werde man nutzen, um das Infektionsgeschehen zu überprüfen. Grünen-Fraktionschef Andreas Schwarz ergänzte, zunächst würden die ersten und zweiten Klassen im Wechselunterricht wieder beginnen. FDP und SPD monierten, das nun von Kultusministerin Eisenmann angeforderte Konzept hätte längst erarbeitet werden müssen. FDP-Fraktionschef Rülke äußerte den Verdacht, die Spitze des Ministeriums sei in «Kurzarbeit».

Der Ministerpräsident erklärte, er habe sich intensiv von Virologen, Epidemiologen sowie Kinder- und Jugendärzten beraten lassen, ob man Kitas und Grundschulen öffnen könne. Sie seien keine «Treiber» des Infektionsgeschehens. Je länger der Lockdown dauere, desto mehr litten die Kleinsten. «Sie brauchen andere Kinder wie der Fisch das Wasser.» Er warb auch persönlich um Vertrauen für seine Entscheidung: «Ich habe ja den Beruf des Lehrers nicht zufällig ergriffen. Deswegen wiege ich hier auch nicht mit der Viehwaage, sondern mit der Goldwaage.» Kretschmann sieht sich damit auf einer Linie mit seiner Kultusministerin, die seit Wochen massiv für eine Öffnung der Schulen wirbt. Eisenmann und er lägen auch nicht weit auseinander in der Beurteilung der Sache, sagte Kretschmann. Die Kultusministerin selbst trat am Donnerstag nicht ans Rednerpult.

IMPFEN: Zum wiederholten Mal hielt die Opposition der Regierung vor, Baden-Württemberg liege beim Impfen in der Rangliste der Länder auf dem letzten Platz. «Lucha ist der FC Tasmania 1900 des Impfens», spottete FDP-Fraktionschef Rülke in Anspielung auf den Verein, der den Sieglos-Rekord der Fußball-Bundesliga hält. Der Berliner Verein hatte in der Saison 1965/66 31 Partien hintereinander nicht gewonnen. Er forderte Kretschmann auf, Gesundheitsminister Manne Lucha (Grüne) die Koordination für die Impfkampagne zu entziehen. Auch CDU-Fraktionschef Wolfgang Reinhart konnte sich Seitenhiebe auf Lucha nicht verkneifen. «Ganz unten in der Bundesliga wollen wir nicht liegen.» Und: «Wir vertrauen jetzt auf eine steile Lernkurve.»

Kretschmann hielt dagegen. Baden-Württemberg setze auf Sicherheit und Verantwortung, indem das Land die Hälfte der verfügbaren Impfdosen für die zweite Impfung zurückhalte, während andere Länder einen größeren Teil des Impfstoffs sofort verimpften. «Wir liegen da ganz richtig.» Bei der Zahl der Menschen mit Zweitimpfung liege Baden-Württemberg auf Platz eins. Er wolle aber nicht behaupten, dass es reibungslos laufe. Kretschmann nannte Fehlbuchungen, falsche Dateneingaben und Probleme mit der Hotline. Eine Impfkampagne sei aber kein «Windhundrennen», sagte er.

HOMEOFFICE: Der Regierungschef verteidigte die neue Maßnahme, um mehr Menschen zum Arbeiten von zuhause anzuhalten. «Da, wo Homeoffice möglich ist, müssen die Arbeitgeber ihren Beschäftigten dies gewähren.» Aus der Verordnung des Bundesarbeitsministeriums entstehe kein Klagerecht oder gar ein Anrecht auf Homeoffice für den Arbeitnehmer, sagte Kretschmann. Die Unternehmen müssten sich lediglich gegenüber den Behörden erklären. «Das ist nicht mehr als ein gewisses Druckmittel, damit die Wirtschaft das auch macht.» AfD-Fraktionschef Bernd Gögel und Rülke bezeichneten die Verordnung aus dem Bundesarbeitsministerium hingegen als «Bürokratiemonster».

GRENZEN: Kretschmann hält es für denkbar, dass die Grenzen geschlossen werden müssen, um die Verbreitung der neuen Virusvarianten aufzuhalten. Es gebe zwei Möglichkeiten: «Entweder wir beschränken den Grenzverkehr, oder wir entwickeln eine gemeinsame, synchrone europäische Strategie.» Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) werde sich bei ihren Beratungen mit den anderen EU-Staaten an diesem Donnerstag dafür einsetzen.

© dpa-infocom, dpa:210121-99-114255/3