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«Schicksalstag der Deutschen»
9. November: Judenhass, Mauerfall und Geburt der Republik

Synagoge Rykestraße
Gäste tragen Kippa bei der Gedenkveranstaltung in der Synagoge Rykestraße. Mit mehr als 2000 Sitzplätzen zählt die Synagoge zu den größten jüdischen Gotteshäusern in Europa. Foto: Michael Kappeler
Bundeskanzlerin
Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht bei der Gedenkveranstaltung in der Synagoge Rykestraße. Foto: Michael Kappeler
Mauerfall
Vor 29 Jahren: Jubelnde Menschen sitzen auf der Berliner Mauer am Brandenburger Tor. Foto: Wolfgang Kumm
Gedenkstunde im Bundestag
Kanzlerin Angela Merkel (r-l), Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und seine Frau Elke Büdenbender bei der Gedenkstunde im Parlament. Foto: Wolfgang Kumm
Vor 80 Jahren wurden Synagogen und Geschäfte verwüstet, tausende Juden deportiert - die Pogromnacht war die Vorstufe zum Holocaust. Aber der 9. November ist auch ein Meilenstein für Freiheit und Demokratie. Schwieriges Erinnern, auch wegen beklemmender Aktualität.

Berlin (dpa) - Der 9. November steht wie kein anderer Tag für die widersprüchliche deutsche Geschichte, für antisemitischen Hass und rechtsextreme Gewalt, aber auch für demokratischen Aufbruch und die Öffnung der deutsch-deutschen Grenze.

Die Spitzen des Staates gedachten am Freitag der Ausrufung der Republik vor 100 Jahren ebenso wie der Pogromnacht von 1938 und des Falls der Mauer 1989.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier forderte einen «demokratischen Patriotismus», Kanzlerin Angela Merkel warnte vor zunehmendem Judenhass, und der Zentralrat der Juden machte die AfD für Attacken und Hetze gegen jüdische Menschen, Muslime und Flüchtlinge mitverantwortlich.

Im Bundestag warb Steinmeier dafür, der Novemberrevolution von 1918 endlich den Platz zu geben, der ihr gebühre. Der 9. November 1918, als der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann vom Berliner Reichstagsgebäude aus die Republik ausrief, sei ein historischer «Meilenstein», aber leider immer noch «ein Stiefkind unserer Demokratiegeschichte».

Viel Beifall erhielt das Staatsoberhaupt, als er mit Blick auf rechtsextreme Proteste die deutschen Nationalfarben für die Demokratie reklamierte. «Wer heute Menschenrechte und Demokratie verächtlich macht, wer alten nationalistischen Hass wieder anfacht, der hat gewiss kein historisches Recht auf Schwarz-Rot-Gold.»

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble sagte zur Bedeutung des 9. Novembers: «An diesem Datum verdichtet sich unsere jüngere Geschichte in ihrer Ambivalenz, mit ihren Widersprüchen und Gegensätzen.» Und er fügte hinzu: «Das Tragische und das Glück, der vergebliche Versuch und das Gelingen, Freude und Schuld: All das gehört zusammen. Untrennbar.»

Auch Steinmeier benannte Widersprüche und Konflikte: «Wir können stolz sein auf die Traditionen von Freiheit und Demokratie, ohne den Blick auf den Abgrund der Shoa zu verdrängen», sagte er und erinnerte auch an den Fall der Mauer 1989 - «den glücklichsten 9. November in unserer Geschichte».

Es bleibe aber die «schwierigste und schmerzhafteste Frage», wie wenige Jahre nach dem demokratischen Aufbruch 1918 Feinde der Demokratie Wahlen gewinnen konnten, das deutsche Volk seine europäischen Nachbarn mit Krieg und Vernichtung überzog und «jüdische Familien in Viehwagen pferchte und Eltern mit ihren Kindern in Gaskammern schickte.»

Ohne sie direkt zu nennen, griff Zentralratspräsident Josef Schuster die AfD scharf an. Eine Partei, die im Bundestag am ganz äußeren rechten Rand sitzt, habe die Hetze perfektioniert. «Sie sind geistige Brandstifter», sagte er bei der Gedenkstunde an die Pogromnacht von 1938 in der Berliner Synagoge Rykestraße. In der «Passauer Neuen Presse» wurde er noch deutlicher: «Die AfD leistet deutlich einer Enthemmung Vorschub und duldet Antisemitismus und Rassismus in ihren eigenen Reihen.»

Am 9. November 1938 hatten die Nationalsozialisten den Befehl für einen inszenierten «Volkszorn» gegen die Juden in ganz Deutschland ausgegeben. Tausende Synagogen und Geschäfte wurden angezündet und geplündert, Zehntausende Juden gedemütigt und deportiert. Wie viele Menschen starben, ist unklar. Die Pogrome gelten als Beginn der systematischen Verfolgung und Vernichtung der Juden in Deutschland.

Merkel begrüßte ebenso wie Steinmeier, dass es in Deutschland heute wieder jüdisches Leben gibt. «Doch zugleich erleben wir einen besorgniserregenden Antisemitismus, der jüdisches Leben in unserem Land und an anderen sicher geglaubten Orten der Welt bedroht.» Sie ging auch auf antisemitische Tendenzen bei Muslimen ein. Der Staat müsse konsequent handeln, «wenn Hass auf Juden und Hass auf Israel, verbal und nonverbal, von in unserem Lande lebenden Menschen ausgeht, die von einem anderen religiösen und kulturellen Hintergrund geprägt worden sind», sagte Merkel.

Leider sei der polizeiliche Schutz jüdischer Einrichtungen zur Gewohnheit geworden. «Aber wir erschrecken uns über Angriffe auf Menschen, die eine Kippa tragen, und stehen fassungslos vor dem rechtsradikal motivierten Angriff auf ein jüdisches Restaurant im August dieses Jahres in Chemnitz.» Diese Form antisemitischer Straftaten wecke «schlimme Erinnerungen an den Beginn der Judenverfolgung in den 30er Jahren», sagte die Kanzlerin.

Am 29. Jahrestag des Mauerfalls wurde in Berlin auch an die Opfer der deutschen Teilung erinnert. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller warnte vor einer neuen Spaltung der Gesellschaft. Mit dem Fall der Mauer habe Deutschland den Weg zur Einheit im Namen von Demokratie, Freiheit und Rechtsstaat beschritten. «Deutschland ist ein vereintes Land, das sich als Garant der Menschenrechte begreift. Das soll und muss auch so bleiben», sagte Müller. Die deutsche Teilung dauerte mehr als 28 Jahre. Allein in Berlin starben nach dem Mauerbau vom 13. August 1961 mindestens 140 Menschen durch das DDR-Grenzregime.

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Zentralrat der Juden

Der Erste Weltkrieg und seine Folgen

Knapp jeder Dritte sieht laut einer Umfrage in Deutschland eine ganz erhebliche Judenfeindlichkeit. 27 Prozent halten den Antisemitismus für groß, vier Prozent sogar für sehr groß, wie eine Befragung der Forschungsgruppe Wahlen für das ZDF-Nachrichtenangebot «heute.de» ergab. Im Juni waren noch 23 beziehungsweise 2 Prozent dieser Meinung.

Knapp die Hälfte (47 Prozent) der 1200 Befragten meint, der Antisemitismus sei nicht groß, und 15 Prozent sagten, es gebe keine Judenfeindlichkeit in Deutschland.