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Jüdischer Kongress in Wien
Antisemitismus breitet sich immer weiter aus

Drei Häuflein Asche mit menschenverachtendem Kommentar als Anspielung auf den Holocaust als Facebook-Posting - einer der Tiefpunkte der antisemitischen Welle in Europa. Eine Konferenz schlägt Alarm.

Wien (dpa) - Die Juden in Europa fühlen sich nach Darstellung ihrer Dachorganisation durch den wachsenden Antisemitismus inzwischen dramatisch bedroht.

Es sei nicht fünf vor zwölf, sondern fünf nach zwölf, sagte der Vizepräsident des Europäischen Jüdischen Kongresses, Ariel Muzicant, bei einer Konferenz zur Bekämpfung von Antisemitismus in Wien. «Wir stehen an einem Scheideweg», erklärte Muzicant. Die Situation für die rund 1,5 Millionen europäischen Juden werde schlimmer und schlimmer. Auch in Deutschland nehmen trotz politischer Bemühungen die Vorfälle zu.

Die Konferenz geht auf eine Initiative von Österreichs Kanzler Sebastian Kurz in seiner aktuellen Funktion als EU-Ratsvorsitzender zurück. Wissenschaftler stellten dabei gemeinsam mit Muzicant ein 150-seitiges Handbuch vor, in dem Maßnahmen gegen Antisemitismus vorgeschlagen werden.

Aus Sicht von Kurz sollte die Konferenz zudem ein wichtiges Signal sein, das Bewusstsein in Europa für das Sicherheitsbedürfnis Israels zu stärken. Auch Axel-Springer-Chef Mathias Döpfner sprach sich als Teilnehmer der Diskussion vehement für die «bedingungslose Unterstützung» Israels aus. Er lehne den Versuch ab, mit den Konfliktparteien im Nahen Osten einen jeweils vergleichbaren Umgang zu pflegen. «Dieses Konzept ist falsch.»

In Europa zählen laut Experten vor allem Frankreich, Spanien und Schweden zu den Brennpunkten. Ein Teil des Problems sei die Zuwanderung von Muslimen mit ihrer anti-israelischen Einstellung, hieß es. Allerdings dürfe man nicht alle über einen Kamm scheren und unter Generalverdacht stellen, warnte Österreichs Bildungsminister Heinz Faßmann. Nach früheren Angaben des Jüdischen Weltkongresses hat in Deutschland die Zahl der antisemitischen Vorfälle im ersten Halbjahr 2018 im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um zehn Prozent auf 400 zugenommen.

Der Hass auf Juden und auf Israel ist nach Ansicht einer Expertin in allen Gesellschaftsschichten verbreitet. «Wir müssen aufhören, den Fehler zu begehen, Antisemitismus und Antizionismus nur am rechten Rand zu lokalisieren», sagte die Wissenschaftlerin Monika Schwarz-Friesel von der TU Berlin der Deutschen Presse-Agentur.

Speziell durch die tausendfachen Kommentare in den sozialen Medien erfahre der Antisemitismus einen gefährlichen Normalisierungseffekt. «Diese Kommentare werden einfach akzeptiert, es gibt keinen Widerstand», sagte Schwarz-Friesel nach der Auswertung einer Flut von Kommentaren. Der Gewalt der Worte folge ganz leicht die Gewalt der Taten, wie der jüngste Anschlag auf eine Synagoge in Pittsburgh im US-Bundesstaat Pennsylvania zeige.

Auf der Konferenz forderte der Spitzenkandidat der Konservativen für den Posten des EU-Kommissionspräsidenten, Manfred Weber (CSU), eine stärkere Kontrolle von Kommentaren in den sozialen Medien. So war auf Facebook unter anderem kurzzeitig auch ein Posting zu sehen, dass drei Häuflein Asche mit menschenverachtendem Kommentar als Anspielung auf den Holocaust zeigte. «Was in der gedruckten Welt nicht erlaubt ist, sollte auch in den sozialen Medien nicht erlaubt sein», meinte Weber.

Im Kampf gegen Antisemitismus reicht es laut Forscherin Schwarz-Friesel nicht, entsprechende Äußerungen meist eher pflichtschuldig zu verurteilen. «Die Floskelkultur ohne Konsequenzen ist das Hauptproblem», sagte sie. Judenhass sei in seiner Qualität nicht mit anderen Vorurteilen vergleichbar. «Der Antisemitismus ist die Schattenseite der europäischen Kultur.»