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Vorwurf der «Doppelmoral»
Chinesischer Botschafter warnt vor «erhobenem Zeigefinger»

Wu Ken
Der chinesische Botschafter in Deutschland, Wu Ken. Foto: Christoph Soeder/dpa
Kanzlerin Merkel wollte die Beziehungen der EU zu China zu einem Schwerpunkt der deutschen EU-Ratspräsidentschaft machen. Die Liste der Streitthemen wird aber immer länger.

Berlin (dpa) - Der chinesische Botschafter in Deutschland, Wu Ken, hat die Kritik der Europäischen Union und Deutschlands an der Menschenrechtspolitik Chinas mit deutlichen Worten zurückgewiesen.

In einem Interview der Deutschen Presse-Agentur betonte er, dass sich jedes Land um seine eigenen Probleme kümmern solle: «Wir sind der Meinung, dass man vor allem seine eigenen Hausaufgaben machen sollte, statt die anderen mit erhobenem Zeigefinger zu belehren.» Er verwies dabei auf «Probleme mit Rechtsradikalismus, mit Rassismus und mit Antisemitismus» in Deutschland.

Das von der EU und Deutschland kritisierte Sicherheitsgesetz für Hongkong verteidigte Wu und verglich es mit dem deutschen Strafgesetzbuch. «Da finden sich ähnliche Regelungen und Prinzipien», sagte er. Er warf der deutschen Politik auch Doppelmoral bei der Bewertung der Proteste Oppositioneller in Hongkong vor. Als vor wenigen Wochen Demonstranten versucht hätten, zum Reichstagsgebäude in Berlin vorzudringen, sei das bei allen politischen Parteien und den Medien in Deutschland auf Kritik gestoßen, sagte Wu. «Aber als im vergangenen Jahr eine Gruppe in Hongkong das Regionalparlament stürmte, haben viele in Deutschland nur den Polizei-Einsatz verurteilt. Das ist Doppelmoral pur.»

China wird Thema beim EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag in Brüssel sein. Bereits in der vergangenen Woche hatten sich Kanzlerin Angela Merkel (CDU), EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping in einer Videokonferenz beraten. Das Vorgehen Chinas in Hongkong zählt derzeit zu den Hauptstreitpunkten zwischen der EU und China.

Das Staatssicherheitsgesetz für die ehemalige britische Kronkolonie war Ende Juni als Reaktion auf die seit einem Jahr anhaltenden Demonstrationen dort erlassen worden. Es gilt als tiefer Eingriff in die Autonomie Hongkongs, das seit der Rückgabe an China 1997 nach dem Grundsatz «ein Land, zwei Systeme» verwaltet worden war. Das Gesetz richtet sich gegen Aktivitäten, die Peking als umstürzlerisch, separatistisch, terroristisch oder verschwörerisch ansieht.

Merkel hatte sich vorgenommen, die Beziehungen der Europäischen Union zu China zu einem Schwerpunkt der deutschen EU-Ratspräsidentschaft zu machen. Das Vorhaben wird jetzt nicht nur durch die Corona-Pandemie erschwert, sondern auch durch eine wachsende Zahl von Streitthemen. Dazu zählt auch der Umgang mit den muslimischen Uiguren in der Provinz Xinjiang. Das Turkvolk fühlt sich von den herrschenden Han-Chinesen unterdrückt. Nach Schätzungen von Menschenrechtlern sind Hunderttausende Uiguren in Umerziehungslager gesteckt worden. Die chinesische Führung spricht von Bildungsmaßnahmen. Sie wirft uigurischen Gruppen Separatismus und Terrorismus vor.

Deutschland und die EU fordern nun, UN-Beobachter nach Xinjiang zu schicken, um sich ein Bild von der Situation der Uiguren zu machen. Wu betonte, dass die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte sowie die Botschafterinnen und Botschafter der EU-Länder in Peking bereits nach Xinjiang eingeladen worden seien. «Ich bin sicher, dass die Delegationen vor Ort ein umfassendes und objektives Bild gewinnen können», sagte er. Einen konkreten Zeitpunkt für die Reise nannte er aber nicht. «Ich gehe persönlich davon aus, wenn die Pandemielage ihn erlaubt.»

Die Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses im Bundestag, Gyde Jensen, kritisierte die Äußerungen des Botschafters scharf. «Es gehört zum bekannten Narrativ der chinesischen Propaganda-Maschine, die massiven Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land durch Gegenvorwürfe und Relativierungen zu verharmlosen», sagte die FDP-Politikerin. Die EU täte gut daran, solche Äußerungen auch mit einer neuen, deutlich verschärften Haltung gegenüber Peking zu quittieren. «Die Menschenrechtslage in der Volksrepublik muss sich endlich auch ganz konkret auf die Außen- und auch Außenwirtschaftspolitik der EU auswirken.»

© dpa-infocom, dpa:200922-99-664205/3

Lebenslauf des chinesischen Botschafters Wu Ken