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Sondierungen
Union und SPD: Ein «Weiter so» kann es nicht geben

Die Hürden für eine neue große Koalition sind groß. Der Erfolgs- und Reformdruck bei den Sondierungen aber ist vielleicht noch größer. Die Spitzen von Union und SPD verbreiten Zuversicht.

Berlin (dpa) - Die Spitzen von CDU, CSU und SPD haben am ersten Tag ihrer offiziellen Sondierungen die Notwendigkeit umfassender Reformen in Deutschland und Europa unterstrichen.

«Wir alle sind uns der Verantwortung für die Zukunft Deutschlands und Europas bewusst», sagte SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil in Berlin. Allen sei klar: «Ein «Weiter so» kann es nicht geben.» Es sei der feste Wille, dass es am kommenden Donnerstag ein Sondierungsergebnis gebe, «auf dessen Grundlage wir dann entscheiden, ob sich weitere Gespräche lohnen».

Deutschland befinde sich «in einer neuen Zeit. Und diese neue Zeit braucht eine neue Politik», sagte Klingbeil und fügte hinzu: «Wir sehen, dass sich Politik in diesem Land verändern muss.» Man habe bereits am ersten Tag in den 15 Arbeitsgruppen beraten. Einzelheiten wollte Klingbeil nicht nennen. Die Beratungen seien sehr ernsthaft und konzentriert, aber offen gewesen. Obwohl man sich bereits kenne, sei es eine «besondere Situation».

Ungeachtet des hohen Reform- und Zeitdrucks zeigten sich Unterhändler aller Seiten vor Beginn der Gespräche zuversichtlich, dass eine Einigung gelingen könnte. Trotz deutlicher Differenzen signalisierten sie Kompromissbereitschaft. CDU und CSU streben eine stabile große Koalition an. Die SPD lässt offen, ob sie eine Neuauflage der noch amtierenden schwarz-roten Regierung oder andere Formen der Zusammenarbeit ermöglichen will.

Nach den Worten von Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) muss Europa im Zentrum eines möglichen Koalitionsvertrages von Union und SPD stehen. Gabriel sagte am Abend in der ARD-Sendung «Bericht aus Berlin», die große Koalition habe 2013 den Fehler gemacht, dass sie sich mehr auf die Innenpolitik konzentriert habe und zu wenig auf Europa.

Es werde endlich Zeit, dass Deutschland eine Antwort auf die Reformvorschläge des französischen Präsidenten Emmanuel Macron gebe. SPD-Chef Martin Schulz will die EU bis 2025 in die Vereinigten Staaten von Europa mit einem gemeinsamen Verfassungsvertrag umwandeln.

Die CDU-Vorsitzende, Kanzlerin Angela Merkel, betonte vor dem Auftakt der Sondierungen, auf eine neue Bundesregierung warteten gewaltige Aufgaben. Kritiker hatten ihr sowie SPD und CSU in der Vergangenheit wiederholt mangelnden Reformwillen vorgehalten. Größte Streitpunkte sind die Migrations- und Flüchtlingspolitik sowie eine von der SPD geforderte einheitliche gesetzliche Bürgerversicherung für das Gesundheitswesen.

Probleme dürfte es außerdem bei dem Thema Europa und bei Steuerfragen geben. Merkel sowie die Vorsitzenden von SPD und CSU, Martin Schulz und Horst Seehofer, sind nach ihren schlechten Ergebnissen bei der Bundestagswahl angeschlagen und auf einen Erfolg der Verhandlungen angewiesen.

Schulz sagte vor Verhandlungsbeginn, Politik und Staat müssten modernisiert und Deutschland auf den Stand der Zeit gebracht werden. Die SPD werde ergebnisoffen sondieren, bekräftigte er. Aber: «Wir ziehen keine roten Linien, sondern wir wollen möglichst viel rote Politik in Deutschland durchsetzen.» Auch Seehofer sicherte zu, er wolle nicht schon mit Bedingungen in die Gespräche starten.

Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) sagte, Deutschland brauche eine «Innovationskoalition», die einen Schwerpunkt bei Bildung und Forschung setze. Bei der Migrationspolitik sei eine Befriedung nötig. Der Familiennachzug müsse für jene ausgesetzt bleiben, die keine dauerhafte Bleibeperspektive hätten.

Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD), die als Kritikerin einer Neuauflage der großen Koalition galt, sagte am Rande des Treffens: «Alle müssen jetzt vernünftig und sachlich aufeinander zugehen.» Ein Fokus liege auf besserer Bildung. «Da muss der Bund zukünftig mehr im Bereich Schule tun.» Auf die Frage, ob eine schwarze Null im Haushalt stehen müsse, erwiderte sie: «Ja.»

Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) betonte, vor allem für die SPD müsse jetzt ein Angebot für den Parteitag entwickelt werden, damit man anschließend in Koalitionsverhandlungen einsteigen könne. Für den Osten sei unter anderem eine weitere Angleichung der Lebensverhältnisse wichtig und eine «klare Ansage zur Kohle, ohne die Klimaziele in Frage zu stellen». Sein Kollege Kretschmer will für die Braunkohleregionen «eine Perspektive von mindestens 30 Jahren, um einen Strukturwandel anfangen zu können».

Merkel unterstrich, Union und SPD hätten für die Fortsetzung der großen Koalition sehr wohl einen Auftrag der Wähler. Zuletzt war dies wegen der schlechten Wahlergebnisse der drei Parteien in Zweifel gezogen worden. Es gehe darum, auch in fünf bis zehn Jahren in Wohlstand und in einer Demokratie leben zu können. Die Sondierungen seien gut vorbereitet worden: «Ich glaube, es kann gelingen», sagte die CDU-Vorsitzende.

Zur ersten Runde traf man sich im Willy-Brandt-Haus, der SPD-Zentrale. In den kommenden Tagen wollen die Parteien abwechselnd auch in der CDU-Zentrale und in der bayerischen Landesvertretung beraten. Die SPD-Spitze braucht für offizielle Koalitionsverhandlungen die Zustimmung eines Parteitags, der am 21. Januar in Bonn stattfinden soll und als große Hürde gilt.

Für Juso-Chef Kevin Kühnert ist es unerheblich, wenn ein Scheitern der Regierungsbildung zum politischen Aus von SPD-Chef Schulz führen würde. «Es geht um Inhalte und die Positionierung im Parteiensystem der Bundesrepublik», sagte Kühnert dem «Handelsblatt».

Schwarz-rote Sondierung: Matadore und Marksteine

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Zauber statt Zaudern

Die Sondierungsgruppen von CDU, CSU und SPD

Das Sondierer-Team von Union und SPD hat sich selbst für die nächsten Tage ein Interview-Verbot verordnet. Bei ihrem ersten Treffen in der SPD-Zentrale habe die Runde verabredet, dass sämtliche Mitglieder der Sondierungsgruppe bis zum Abschluss der Gespräche keine Interviews geben sollen, erfuhr die Deutsche Presse-Agentur aus Sondierungskreisen. Sollten die Parteien das durchziehen, würden sie damit auch kritischen Nachfragen von Journalisten aus dem Weg gehen.

Union und SPD hatten bereits vorab angekündigt, dass sie einen anderen Stil als bei den Jamaika-Sondierungen von Union, FDP und Grünen anstreben - und unter anderem darauf verzichten wollen, Zwischenstände zu veröffentlichen und inhaltliche Streitigkeiten über die Medien auszutragen.