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Debatte um «Querdenken»: Verfassungsschutz beobachtet nicht

Mann bei «Querdenken»-Kundgebung
Ein Teilnehmer einer Aktion der selbsterklärten «Querdenker» in Göppingen. Foto: Christoph Schmidt/dpa/Archivbild
Der Widerstand gegen die Corona-Auflagen treibt nach wie vor viele Menschen auf die Straße. Der Ruf nach einem Eingreifen der Polizei wird lauter - und nach dem Verfassungsschutz. Nicht nur in Baden-Württemberg könnte nun eine Entscheidung anstehen.
Stuttgart.

Stuttgart (dpa/lsw) - Angesichts der anhaltenden Proteste der «Querdenken»-Bewegung und zunehmender Gewalt im Umfeld der Demonstrationen werden die Rufe nach dem Verfassungsschutz lauter. Für eine Einstufung als Beobachtungsobjekt reicht es in Baden-Württemberg bislang allerdings trotz der Warnungen vor einer Radikalisierung und Unterwanderung durch Extremisten nicht. Derzeit sei «Querdenken 711» kein Beobachtungsobjekt, teilte das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg am Donnerstag mit. Es sei nicht festzustellen, dass die Stuttgarter Initiative durch extremistische Akteure vereinnahmt werde.

Sowohl unter den Organisatoren der «Querdenken»-Veranstaltungen wie auch im näheren Umfeld der Initiative seien aber bekannte Extremisten aktiv. «Sie sind es in der Hauptsache, die extremistische und verschwörungsideologische Inhalte mit der Kritik an den staatlichen Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie vermischen», hieß es weiter. Es würden auch Verschwörungsmythen verbreitet, die mit dem Ziel eines auch politischen Umsturzes verknüpft seien. Diese würden nicht nur von Extremisten vertreten, sie fänden auch starken Anklang bei anderen Demonstranten. Damit stellten sie eine zunehmende Gefahr für die Radikalisierung einzelner Demonstrationsteilnehmer dar, teilte das Landesamt mit.

Der Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes, Stephan J. Kramer, rechnet allerdings damit, dass die Bewegung bald als Verdachtsfall eingestuft wird. Hintergrund sei ein Treffen von den Organisatoren der «Querdenken»-Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen mit Angehörigen der Reichsbürgerszene im thüringischen Saalfeld, sagte Kramer der Deutschen Presse-Agentur. Daran hätten rund 100 Menschen aus dem gesamten Bundesgebiet teilgenommen. Nur wenige seien wieder abgereist, nachdem ihnen die Zusammensetzung der Teilnehmer bewusst geworden sei. Dem Sender RBB hatte Kramer gesagt, dass aus seiner Sicht inzwischen «hinreichende Anhaltspunkte» vorlägen, die Szene als Verdachtsfall einzustufen.

Der Grünen-Abgeordnete Uli Sckerl geht von einer Entscheidung über einen sogenannten Prüffall in den kommenden Wochen aus. Das wäre zunächst die Vorstufe eines Verdachtsfalls, bei dem der Verfassungsschutz auch nachrichtendienstliche Mittel einsetzen kann. «Es gibt hinreichend Material, um in absehbarer Zeit eine gemeinsame und bundesweite Entscheidung zu fällen», sagte Sckerl, der auch dem Parlamentarischen Kontrollgremium im Stuttgarter Landtag vorsteht. Das auch als Geheimdienstausschuss bekannte Gremium war am Donnerstag zusammengekommen, um über das Gefahrenpotenzial durch die «Querdenker» zu beraten.

Andere baden-württembergische Politiker halten sich bislang noch zurück, wenn es um die Frage einer Beobachtung durch den Verfassungsschutz geht. «Ich bin dafür, dass die Verfassungsschützer ein sorgsames Auge auf die Bewegung hat», sagte der FDP-Politiker Nico Weinmann nach der Sitzung des Ausschusses. Aufklärung und offene Parlamentsdebatten über die Corona-Auflagen seien wichtig, damit nicht-extremistische «Querdenker» besser über die Verschwörungsmythen und extremistischen Hintergründe informiert würden. Veranstalter müssten sich zudem schärfer distanzieren und auch Konsequenzen ziehen, wenn sie Extremisten unter den Demonstranten entdeckten.

Auch Thomas Blenke, innenpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion, fordert eine intensivere Prävention. Die Entscheidung über eine Beobachtung treffe letztlich aber die Sicherheitsbehörde. Der SPD-Rechtsexperte Boris Weirauch sprach sich dagegen deutlich dafür aus: «Die Gruppierung «Querdenken» ist ein Fall für den Verfassungsschutz», sagte er der dpa. «Die Art und Weise, wie unter Einsatz von Drohungen und Gewalt nicht zuletzt in Berlin demonstriert wurde, erinnert an dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte.»

Der Antisemitismusbeauftragte der baden-württembergischen Landesregierung, Michael Blume, wirft den «Querdenkern» offen Demokratiefeindlichkeit vor. «Sie greift die Demokratie an», sagte Blume am Donnerstag im ZDF-«Morgenmagazin». «Wer es jetzt noch nicht sehen will, wie gefährlich diese Bewegung ist und wie die sich radikalisiert, der möchte es offensichtlich gar nicht wahrnehmen.»

Blume begründete seine Einschätzung unter anderem damit, dass «Querdenken»-Gründer Michael Ballweg eine «verfassungsgebende Versammlung» einberufen habe, auch gebe es Kontakte zur Szene der sogenannten Reichsbürger. Diese lehnen den deutschen Staat, sein Rechtssystem, Regierungen, Parlamente und die Polizei ab.

Der Stuttgarter Unternehmer Ballweg wehrte sich gegen die Vorwürfe: «Die Bewegung wird falsch dargestellt», sagte er der dpa. «Wir sind eine friedliche Bewegung und keine politische Partei.» Extremismus, Gewalt, Antisemitismus und menschenverachtendes Gedankengut hätten ebenso wenig Platz bei den «Querdenkern» wie die Symbole dieser Denkweisen.

Anhänger der Initiative «Querdenken 0711» und Ableger der Bewegung sind in den vergangenen Monaten in zahlreichen deutschen Städten gegen Beschränkungen in der Corona-Krise auf die Straße gegangen. Es gab auch Gegendemonstrationen.