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Energie
Atomkraft nur im Notfall - Was bedeuten Habecks Pläne?

Atomkraft
Zwei der drei letzten deutschen Atomkraftwerke sollen laut Habeck nach dem Jahreswechsel noch bis Mitte April 2023 als Reserve zur Verfügung stehen. Foto: Armin Weigel
Robert Habeck
Der Wirtschaftsminister sorgt mit seiner Reserve-Idee für Atomkraftwerke für Kontroverse. Foto: Kay Nietfeld
Die Kontroverse um die Reserve entbrannte sofort. Umweltverbände fürchten um den Atomausstieg. Und was ist eigentlich mit der Sicherheit, wenn zwei deutsche AKW womöglich auch 2023 noch Strom liefern?

Berlin. Damit hatte kaum einer gerechnet: Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck will die letzten deutschen Atomkraftwerke nicht wie geplant zum Jahresende für immer vom Netz nehmen. Einfach weiterlaufen sollen sie aber auch nicht. Stattdessen will der Grünen-Politiker zwei der drei verbliebenen Atomkraftwerke in eine Reserve verfrachten. Das Konzept wirft reichlich Fragen auf.

Was soll diese neue Reserve sein?

Das Wirtschaftsministerium nennt sie «Einsatzreserve». Wenn es nötig ist, sollen die Kraftwerke Isar 2 in Bayern und Neckarwestheim in Baden-Württemberg im Winter einen zusätzlichen Beitrag im Stromnetz leisten. Neue Brennstäbe sollen dafür nicht verwendet werden. Bis Mitte April sollen die beiden Kraftwerke zur Verfügung stehen. Danach soll auch für sie Schluss sein. Für den Winter 2023/24 hält das Ministerium eine solche Einsatzreserve in keinem Fall mehr für nötig.

Wann und unter welchen Umständen würde die Reserve genutzt werden?

Mehrere Maßnahmen sollen dafür sorgen, dass immer genug Strom da ist, etwa eine bessere Nutzung von Kraftwerken und Stromleitungen. Nur wenn all das nicht ausreicht, um eine Versorgungskrise abzuwenden, sollen die beiden Kernkraftwerke wieder angefahren werden. Das Ministerium spricht von einem «Notfalleinsatz» zur «Abwehr einer konkreten Gefahr für die Versorgungssicherheit».

Die zugrunde gelegten Szenarien nehmen unter anderem an, dass Steinkohlekraftwerke dann nicht mehr so viel Strom produzieren können, weil sie wegen anhaltenden Niedrigwassers nicht mehr genug Brennstoff bekommen. Angenommen wird auch, dass viele andere Kraftwerke in Deutschland und Frankreich nicht zur Verfügung stehen. Für das Modell wird gleichzeitig ein starker Einsatz von Heizlüftern sowie ein extrem hoher Gaspreis angenommen.

Gäbe es überhaupt noch genug Personal für eine Reserve?

Seit vielen Jahren steht fest, dass Ende 2022 eigentlich Schluss ist. Die Unternehmen haben sich lange darauf vorbereitet. Ende Juli sagte der Vorstandschef des Energiekonzerns EnBW, Frank Mastiaux, dass es für die mehr als 700 Beschäftigten im aktiven Kraftwerksbetrieb Pläne etwa für Umschulungen oder Frühpensionierungen gebe. EnBW ist Betreiber des Kernkraftwerks Neckarwestheim. EnBW und Eon, der Betreiber von Isar 2, wollen jetzt auch prüfen, ob ein Reservebetrieb «organisatorisch» machbar ist. Hinter der Formulierung dürfte sich auch die Frage nach dem Personal verbergen.

Was kostet der Reservebetrieb?

Das Ministerium nennt die Kosten für das Vorhalten von Personal und Technik «überschaubar», ohne eine genaue Summe zu nennen. Diese Kosten sollen den Betreibern vom Staat erstattet werden. Die Verbraucherinnen und Verbraucher sollen damit nicht belastet werden. Sollte ein Atomkraftwerk wieder ans Netz gehen, sollen etwaige «Zufallsgewinne» - damit sind hohe Gewinne gemeint, die sich aus sehr hohen Marktpreisen für Strom infolge der Gaskrise ergeben - wie bei anderen Kraftwerken auch «abgeschöpft» werden. Mit dem Geld soll die sogenannte Strompreisbremse finanziert werden, die für einen Basisverbrauch den Strompreis deckeln soll.

Wie steht es um die Sicherheit?

Nach dem Atomgesetz muss eine Periodische Sicherheitsüberprüfung (PSÜ), bei der die AKW über viele Monate intensiv untersucht werden, in der Regel alle zehn Jahre erfolgen. Bei den drei Meilern gab es 2009 die letzte PSÜ. Die eigentlich für 2019 anstehende Prüfung wurde mit Blick auf den Abschalttermin am 31. Dezember 2022 ausgesetzt.

Das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung gab schon vor der Bekanntgabe der Stresstest-Ergebnisse zu bedenken, dass die Meiler bei einer Verlängerung «mit nicht erkannten Defiziten weiterlaufen» könnten. Staat und Gesellschaft müssten entscheiden, «ob sie für den Vorteil der Energieerzeugung die Risiken eines katastrophalen Unfalls tragen wollen», so das Bundesamt.

Die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) ging am Dienstag auf Anfrage davon aus, dass die AKW auch über Ende 2022 hinaus «sicher» beziehungsweise «sicher genug» sind. Denn neben einer PSÜ müssten AKW-Betreiber «alle sicherheitstechnisch wichtigen Einrichtungen kontinuierlich» prüfen, erklärt der technisch-wissenschaftliche GRS-Geschäftsführer Uwe Stoll. Technische Einrichtungen würden etwa wöchentlich, jährlich oder in größeren Zeitabständen kontrolliert. Stoll zufolge dient eine PSÜ nicht in erster Linie dazu, mögliche sicherheitsrelevante Schäden zu erkennen, sondern unter anderem den Ist-Zustand einer Anlage mit dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik abzugleichen.

Warum soll das AKW Emsland nicht Teil der Reserve sein?

Für den süddeutschen Raum geben es weniger AKW-Alternativen als im Norden, argumentiert Habeck. Sein Ministerium verweist darauf, dass im Süden weniger Strom aus erneuerbaren Energieträgern wie Wind und Sonne produziert wird, wichtige Industriezentren dort aber großen Bedarf hätten. In Bayern mangele es zudem an Netzverbindungen. In Norddeutschland hingegen sollten zur Deckung möglicher Lücken schwimmende Ölkraftwerks-Schiffe zum Einsatz kommen.

Die Netzbetreiber, die den Stresstest im Auftrag des Ministeriums durchgeführt haben, zogen andere Schlussfolgerungen als Habeck. Sie hätten sich dafür ausgesprochen, alle drei verbleibenden Atomkraftwerke weiterlaufen zu lassen. Der stellvertretende Unionsfraktionschef Jens Spahn (CDU) brachte die Tatsache, dass das AKW Emsland nicht mit in die Reserve sol, in Verbindung mit der Landtagswahl in Niedersachsen am 9. Oktober. Grünen-Chefin Ricarda Lang widersprach - im ARD-«Mittagsmagazin» argumentierte sie, die Versorgungssicherheit sei vor allem im Süden Deutschlands problematisch.

Reicht die Reserve?

Nein. Laut dem Stresstest der Stromnetzbetreiber könnten die drei verbliebenen deutschen Atomkraftwerke bei einem Weiterbetrieb in kritischen Situationen im Stromnetz nur einen begrenzten Beitrag leisten - und davon sollen ja auch nur zwei in die Reserve gehen.

Zur Stabilisierung des Stromnetzes würden die drei Kraftwerke in einem «sehr kritisch» genannten Szenario den Bedarf an Ausgleichskraftwerken im Ausland nur um 0,5 Gigawatt senken, berichteten die Übertragungsnetzbetreiber am Montag in Berlin. Es bliebe auch dann ein Bedarf im Ausland von 4,6 Gigawatt. Solche Ausgleichskraftwerke können dem deutschen Markt kurzfristig Strom zum Ausgleich von Netzengpässen zur Verfügung stellen.

Das Ministerium betont: Wenn alle drei Atomkraftwerke ihre Brennelemente komplett ausbrennen lassen würden, würde dadurch nur minimal weniger Strom in Gaskraftwerken erzeugt. Die Menge betrüge in Deutschland 0,9 Terawattstunden, was etwa einem Promille des deutschen Gasverbrauchs entspreche.

Deshalb ruft Habeck auch weiter zum Energiesparen auf. Außerdem will er Hürden für eine stärkere Nutzung erneuerbarer Energien noch weiter abbauen, Vorschläge dazu verschickte sein Haus am Dienstag an die anderen Ministerien.

© dpa-infocom, dpa:220906-99-653578/4