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Über 100 Mails von «NSU 2.0»
«Bürger exekutieren»: Mutmaßliche Rechtsextremisten drohen

Justizzentrum Potsdam
Nach einer Bombendrohung von Rechtsextremisten steht ein Polizeifahrzeug am Justizzentrum Potsdam. Foto: Julian Stähle
Behörden, Politiker oder der Zentralrat der Juden werden immer wieder bedroht. Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft in einer unheimlichen Serie, die auf das Konto von Rechtsextremisten gehen könnte. Darunter sind auch Bombendrohungen.

Berlin (dpa) - «Bürger exekutieren», «Bundesweit Briefbomben verschicken»: Deutsche Politiker, Gerichte, Institutionen und Behörden sind offensichtlich seit Monaten Ziel von Gewaltdrohungen aus mutmaßlich rechtsextremen Kreisen.

Die federführende Berliner Staatsanwaltschaft ermittelt in 78 Fällen, etwa wegen des Verdachts der räuberischen Erpressung und der Volksverhetzung. Von der bundesweiten Serie sind auch Anwaltskanzleien und Verlage betroffen, wie die Behörde am Donnerstag mitteilte.

Nach Angaben anderer Ermittler mussten wegen Bombendrohungen bereits in etlichen Städten Gebäude oder Straßenzüge geräumt werden. Bei Durchsuchungen wurden keine Sprengkörper gefunden, die Täter sind unbekannt.

«Süddeutsche Zeitung» und NDR berichteten, mehr als 100 verschickte E-Mails seien mit «Nationalsozialistische Offensive», «NSU 2.0» oder «Wehrmacht» unterzeichnet worden. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur soll die Serie bereits im vergangenen Sommer begonnen haben.

Dass die Absender bislang nicht ermittelt wurden, hängt dem Vernehmen nach auch damit zusammen, dass sie beim Versenden ihrer Botschaften darauf achten, dass diese E-Mails nicht zurückverfolgt werden können. Unklar ist, ob es sich wirklich um Rechtsextremisten handelt und ob möglicherweise auch Trittbrettfahrer unterwegs sind.

Wegen entsprechender Drohungen seien am Montag der Hauptbahnhof Lübeck sowie am Dienstag das Finanzamt Gelsenkirchen vorsorglich geräumt worden, hieß es in den Medienberichten. Laut Polizei Koblenz gab es am Dienstag auch eine Bombendrohung gegen das dortige Finanzamt.

Die Hamburger Polizei sperrte aus dem selben Grund am Mittwoch kurzzeitig mehrere Straßen, bevor sie Entwarnung gab. Die Frankfurter Staatsanwaltschaft bestätigte, dass es im Januar Bombendrohungen gegen das dortige Oberlandesgericht und die Staatsanwaltschaft gab.

Seinerzeit gingen auch an Landgerichten mehrerer Landeshauptstädte Bombendrohungen ein. Betroffen waren unter anderem Wiesbaden, Saarbrücken, Hamburg, Potsdam, Magdeburg, Erfurt und Kiel. In Kiel war die Bombendrohung laut Polizei mit «Nationalsozialistische Offensive» unterschrieben.

Ein Gerichtssprecher in Hamburg erklärte seinerzeit, die E-Mail habe rechtsextreme Bezüge enthalten. Laut Polizei Magdeburg drohte ein anonymer Absender mit einem Anschlag auf bundesweiter Ebene. Laut «SZ» und NDR ging eine Drohung auch beim Flughafen Hamburg ein, dort nahm dazu niemand Stellung.

Eine einschlägige Mail erhielt am Dienstag nach eigenen Angaben die Bundestagsabgeordnete Martina Renner (Linke). Ein Unbekannter schrieb darin fehlerhaft: «aber zur Not sind wir dazu Bereit.Bundesweit Briefbomben zu verschicken, oder auch Rizin zu verteilen, oder Bürger auf offener Straße zu exekutieren». Unterschrieben war der Drohbrief mit «nationalsozialistische Offensive». Nach Recherchen von «SZ» und NDR erhielt auch die Sängerin Helene Fischer Drohmails, die sich nach den Ausschreitungen in Chemnitz kritisch geäußert hatte. Fischers Management sagte dazu nichts.

Die Bundesanwaltschaft legte den Berichten zufolge einen Prüfvorgang an, wollte sich auf Anfrage dazu aber nicht näher äußern. «Die Gruppierung versendet seit mehreren Monaten mit unterschiedlichen Absende-E-Mailadressen korrespondierende Droh-E-Mails an Behörden und Institutionen im Bundesgebiet, ohne das ein schädigendes Ereignis eintrat», erklärte das Polizeipräsidium Koblenz. «Der Inhalt der E-Mails ähnelt sich jeweils im Sprachgebrauch.»

Der Zentralrat der Juden in Deutschland erklärte auf dpa-Anfrage, auch er habe in dem Zusammenhang eine Drohmail erhalten. Generell gehe regelmäßig Hasspost ein, ob nun postalisch, per Mail oder über sozialen Medien. Die Zahl könne bis zu mehreren Hundert Zuschriften pro Tag erreichen, teils mit Gewaltdrohungen. «Letzteres schon seit langem nicht mehr anonym und zunehmend aggressiv», so der Zentralrat.

Die Grünen-Innenpolitikerin Irene Mihalic sagte, die Drohbriefe der Rechtsextremen könnten der Beginn einer terroristischen Kampagne sein. «Die Nazi-Szene ist breit und tief vernetzt und scheint sich unterhalb des Radars der Sicherheitsbehörden noch relativ unbehelligt zu fühlen.» Ihre Linke-Kollegin Renner forderte, Betroffene müssten umfassend informiert und geschützt werden.

Schon länger bekannt ist, dass unter dem Kürzel «NSU 2.0» in den vergangenen Monaten Drohschreiben an eine Frankfurter Rechtsanwältin geschickt worden waren. NSU ist das Kürzel des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds, der zehn Menschen erschossen hatte, wofür die einzige Überlebende Beate Zschäpe in einem noch nicht rechtskräftigen Urteil als Mittäterin verurteilt worden war.

Bericht "SZ"

Bericht NDR