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Sozialreform
Bürgergeld nimmt letzte Hürde

Hubertus Heil
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil verfolgt während der Bundesratssitzung die Abstimmung zum Bürgergeld. Foto: Wolfgang Kumm
Grünes Licht für große Reform: Viele Firmen suchen händeringend Arbeitskräfte. Trotzdem stecken viele Menschen in Hartz IV fest. Nun soll sich der Staat besser um die Arbeitslosen kümmern.

Berlin. Mit dem Start des Bürgergelds erhalten Millionen Bedürftige zum 1. Januar deutlich höhere Bezüge. Nach wochenlangem Ringen nahm das zentrale sozialpolitische Projekt der Ampel-Koalition am Freitag die letzten Hürden. Bundestag und Bundesrat versammelten sich mit breiten Mehrheiten hinter dem Regelwerk, das auf Druck der Union verschärft worden war. In der Länderkammer sagte Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD): «Wir schaffen ein neues System weg von Hartz IV zum Bürgergeld.» Linke und AfD kritisierten die Reform. Arbeitgeber, Gewerkschaften und Sozialverbände reagieren verhalten positiv.

«Es geht um Schutz und Chancen», sagte Heil. «Mit dem Bürgergeld besteht die Chance, dass wir den Grundsatz von Schutz und Chancen in diesen Zeiten erneuern.» Statt Massenarbeitslosigkeit wie zu Beginn von Hartz IV gebe es heute Vollbeschäftigung und Fachkräftemangel. Angesichts der hohen Inflation steigen die Bezüge in der Grundsicherung um mehr als 50 Euro. Alleinstehende erhalten 2023 monatlich 502 Euro.

Arbeitslose erhalten mehr Hilfe

Große Teile der Reform treten erst zum 1. Juli in Kraft. Die Jobcenter sollen sich dann stärker um Arbeitslose kümmern. Die Vermittlung in dauerhafte Arbeit anstatt in Helferjobs soll besser gelingen. Die Betroffenen sollen verstärkt weiterqualifiziert werden. Die Empfängerinnen und Empfänger der Grundsicherung dürfen künftig auch mehr hinzuverdienen, etwa mit Minijobs.

Den Beschlüssen war ein Vermittlungsverfahren von Bundestag und Bundesrat vorausgegangen. Die Union hatte die ursprünglichen Pläne von SPD, Grünen und FDP abgelehnt. Ihr Hauptkritikpunkt war, Arbeitslose würden zu wenig zu eigener Mitwirkung angehalten. Die Balance von Fördern und Fordern sah die Union nicht mehr gewahrt. Im Bundesrat fiel das Bürgergeld deshalb zunächst durch.

Seitenhieb auf die Union

In einem Seitenhieb auf die Union wandte sich Heil nun gegen den «Generalverdacht», dass Langzeitarbeitslose zu faul zum Arbeiten seien. In der abschließenden Debatte im Bundestag hatte FDP-Vize Johannes Vogel zuvor betont: «Fördern und Fordern gilt auch beim Bürgergeld.» Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann sagte: «Die Methode Populismus hatte im Vermittlungsausschuss überhaupt keinen Raum.» Sie habe sich gefragt, ob es daran liege, dass CDU-Chef Friedrich Merz und CSU-Chef Markus Söder nicht dabei gewesen seien.

Der AfD-Abgeordnete Götz Frömming bewertete das Bürgergeld als «Etikettenschwindel». Gesine Lötzsch von der Linken sagte: «Das Bürgergeld ist eben keine Überwindung von Hartz IV, es ist nur ein Täuschungsmanöver.» Im Bundesrat begründete Thüringens Minister für Bundesangelegenheiten, Benjamin-Immanuel Hoff (Linke), die Zustimmung seines Landes damit, dass es sich unter anderem bei den höheren Regelsätzen um nötige Sofortmaßnahmen handele.

CDU spricht von einem guten Kompromiss

Hessens Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) versicherte, das Vorgehen der Union habe nichts mit Blockade zu tun gehabt. Ein guter Kompromiss sei gelungen. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) betonte, «dass wir neue Ansätze benötigen». Heute gebe es mehr Unqualifizierte und Menschen mit Migrationshintergrund, die eine Perspektive bräuchten. Seine rheinland-pfälzische Amtskollegin Malu Dreyer (SPD) sagte: «Ein Drittel der arbeitslosen Menschen haben keine abgeschlossene Ausbildung.» Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) sagte mit Blick auf die Union, die Debatte sei «vergiftet» geführt worden. Suggeriert worden sei, dass Arbeit sich nicht mehr lohne.

Verschärft wurden auf Druck von CDU und CSU entgegen Heils  ursprünglichem Entwurf die möglichen Sanktionen. Bereits ab Januar sind Kürzungen des Bürgergelds gestaffelt und in Höhe von maximal 30 Prozent möglich, wenn sich Arbeitslose entgegen den Absprachen nicht auf eine Stelle bewerben oder eine Maßnahme zur Qualifizierung verweigern. Die Betroffenen dürfen zudem künftig weniger selbst angespartes Geld behalten als zunächst geplant. Dieses sogenannte Schonvermögen beträgt in einer «Karenzzeit» von einem Jahr künftig 40.000 Euro.

Sehr große Mehrheit für ausgehandelten Kompromiss

Im Bundestag stimmten 557 Abgeordnete für die Änderungen durch den Vermittlungsausschuss. Den Kompromiss ausgehandelt hatte eine informelle Runde von Ampel-Koalition und Union. Die AfD kritisierte das Vorgehen deshalb als nicht verfassungsgemäß. Abschließend bekam das Bürgergeld eine «sehr große Mehrheit» im Bundesrat, wie der Bundesratspräsident, Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD), feststellte. Bayern hatte sich enthalten.

Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger sprach von einem «nachgebesserten Hartz-IV-Gesetz». Die Integration in die Betriebe könne gelingen - «mit Fördern und Fordern, Qualifizierung, Coaching und gezielter Unterstützung». Die Jobcenter müssten dafür aber angemessen ausgestattet werden. DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel sagte, die Ampel habe viele wesentliche Verbesserungen des Bürgergelds in den Verhandlungen mit der Union gerettet.

Vanessa Ahuja vom Vorstand der Bundesagentur für Arbeit bewertete das als «wichtige Reform». Sie sagte: «Bei den Fördermöglichkeiten wird unser Instrumentenkasten größer.» Die Vorsitzende des Sozialverbandes Deutschland, Michaela Engelmeier, sagte: «Nun ist es wichtig, dass spalterische Rhetorik, die unterschiedliche Gruppen gegeneinander aufhetzt, endlich beendet wird.»

© dpa-infocom, dpa:221125-99-655583/13