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«Seelische Abartigkeit»
Gutachter im Halle-Prozess - Angeklager voll schuldfähig

Halle-Prozess
Das Verfahren um den Anschlag läuft seit Juli. Am 9. Oktober 2019 hatte ein schwer bewaffneter Mann versucht, die Synagoge von Halle zu stürmen, um dort ein Massaker anzurichten. Foto: Jan Woitas/dpa-Zentralbild/dpa
Das psychiatrische Gutachten attestiert dem Angeklagten im Halle-Prozess eine tiefe Persönlichkeitsstörung. Er handelte aber weder aus Zwang noch im Wahn, so der Gutachter. Der Angeklagte selbst kritisiert die Einschätzung.

Magdeburg (dpa) - Der Angeklagte im Halle Prozess hat eine tiefe komplexe Persönlichkeitsstörung - aber voll schuldfähig ist er auch.

Zu diesem Schluss kommt das psychiatrische Gutachten, das der forensische Psychiater Norbert Leygraf vor Gericht vortrug. «Eine Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit aus psychiatrischer Sicht ist nicht anzunehmen», sagte der Gutachter, der den Angeklagten im Gefängnis in Halle rund 12 Stunden lang untersucht und an vielen der nun 18 Verhandlungstage im Gerichtssaal beobachtet hatte. Der Angeklagte habe nicht im Wahn gehandelt, sondern im vollen und klaren Bewusstsein über seine Taten.

Eine geminderte Schulfähigkeit wäre die Grundvoraussetzung für eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gewesen. Außerdem sei anzunehmen, dass der Angeklagte wieder so handeln würde, wenn er könnte. Diese Einschätzung ist wichtig für die Frage, ob bei einer Verurteilung nach der Freiheitsstrafe eine Sicherungsverwahrung verhängt werden kann.

Ohne Schuld handelt laut Strafgesetzbuch, wer wegen «krankhafter seelischer Störung», «tiefgreifender Bewusstseinsstörung» oder «schwerer anderer seelischer Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln». Zwar sei die diagnostizierte Persönlichkeitsstörung eine «seelische Abartigkeit» im juristischen Sinne, sagte Leygraf.

Die habe die Fähigkeit des Angeklagten, das Unrecht seiner Taten zu erkennen, und sein Steuerungsvermögen aber nicht beeinflusst. Das Video, das der Attentäter während des Anschlags drehte, zeige zudem, dass er während der Tat bei klarem Bewusstsein war.

Das Verfahren um den Anschlag läuft seit Juli. Am 9. Oktober 2019 hatte ein schwer bewaffneter Mann versucht, die Synagoge von Halle zu stürmen, um dort am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur ein Massaker anzurichten. Nachdem er nicht in das Gotteshaus gelangte, erschoss er eine 40 Jahre alte Passantin und kurz darauf einen 20-Jährigen in einem Döner-Imbiss. Der 28 Jahre alte Deutsche Stephan Balliet hat die Taten gestanden und mit antisemitischen, rassistischen Verschwörungstheorien begründet. Der Prozess läuft vor dem Oberlandesgericht Naumburg, findet aus Platzgründen aber in Magdeburg statt.

Leygraf stellte bei seiner Untersuchung unter anderem Züge von Autismus und Paranoia fest. Eine «isolierte, wahnhafte Störung» lasse sich bei dem Angeklagten aber nicht feststellen. Dafür sei er zu planvoll und beherrscht vorgegangen. Ein Täter im Wahn hätte demnach zum Beispiel nicht, wie der Attentäter, einen günstigen Zeitpunkt seiner Tat abwarten können, sondern aus Zwang spontan gehandelt. Typisch für einen wahnkranken Täter sei außerdem ein übersteigertes Selbstbild. Auch das zeige der Angeklagte nicht. So habe der Angeklagte gehandelt, um vermeintlich seine Familie und weiße Männer zu schützen, nicht aber explizit und vor allem sich selbst.

Auch sehe der Angeklagte sich selbst nicht als Auserwählten, der sich zu der Tat berufen gefühlt hätte. Vielmehr habe er nüchtern festgestellt, dass er, arbeitslos und ohne Freundin oder Frau, nicht viel zu verlieren hatte und damit zu der Tat in der Lage sei.

In den Gesprächen sei der Angeklagte meist ruhig gewesen, in Bezug auf seine Taten auch redselig, berichtete der Psychiater. Wortkarg und zuweilen aggressiv habe er auf Fragen nach seiner Vorgeschichte und seiner Familie reagiert. Dieses Verhalten hatte der Angeklagte auch vor Gericht gezeigt. Außerdem habe Balliet in den Gesprächen großen Wert darauf gelegt, nicht als psychisch krank angesehen zu werden, wie das oft bei islamistischen Attentätern der Fall sei.

Auch vor Gericht legte der Angeklagte viel Wert darauf, dass er psychisch gesund sei. Der 28-Jährige bemängelte einige Stellen des Gutachtens und behauptete, dort falsch wiedergegeben worden zu sein. Davon fühle er sich «in seiner Ehre als Antisemit» verletzt, sagte Balliet und wurde dabei merklich lauter.

Schon vor Leygraf hatte eine Psychologin ein testpsychologisches Zusatzgutachten zur Intelligenz des Angeklagten vorgetragen. Die Gutachterin ermittelte bei dem Mann einen IQ-Wert von 105, das sei durchschnittlich. Auch seine kognitiven Fähigkeiten sind demnach unauffällig. Außerdem bescheinigte die Psychologin dem Angeklagten Anzeichen von Depression, Paranoia und eine gewisse Naivität.

© dpa-infocom, dpa:201103-99-185691/5