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Pandemie
Intensivmediziner: «Corona-Lage ist sehr besorgniserregend»

Gernot Marx
Gernot Marx ist Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin. Foto: Rolf Vennenbernd/dpa
Aufgrund der seit Wochen anhaltend hohen Zahlen bei den Corona-Neuinfektionen füllen sich die Intensivstationen immer weiter. Die Intensivmediziner-Vereinigung Divi schlägt Alarm.

Berlin (dpa) - Die Lage in den Kliniken spitzt sich zu: Vielerorts sind die Intensivstationen infolge der wachsenden Zahl an Covid-Patienten bereits überlastet.

Ärzte bereiten sich verstärkt auf Patientenverlegungen vor, wie die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) mitteilte. «Die Corona-Lage ist sehr besorgniserregend und momentan nicht unter Kontrolle», sagte Divi-Präsident Gernot Marx in einer Videoschalte. Man mache sich große Sorgen.

Mehr als 3670 Covid-19-Patienten würden derzeit auf Intensivstationen in Deutschland versorgt, knapp 1200 seien vergangene Woche hinzugekommen. Regional, etwa in Bayern, Thüringen, Sachsen und einigen Ballungszentren seien die Intensivstationen bereits überlastet.

«Diese Überlastungssituation macht Verlegung in den jeweiligen Bundesländern zurzeit schon notwendig und auch eine Priorisierung». Das bedeute, dass planbare Operationen verschoben werden und die Kliniken Reserven schaffen müssten.

Wenn die Infektionsdynamik in den nächsten Tagen und Wochen anhalte und es weiter einen ungebremsten Anstieg an schwerkranken Covid-19-Patienten gebe, werde eine Priorisierung von Eingriffen und eine Umorganisation in weiten Teilen Deutschlands notwendig. Die allgemeine Gesundheitsversorgung stehe dann nicht mehr auf sehr hohem, gewohntem Niveau zur Verfügung. Jeder Notfall und jeder Covid-19-Patient werde jedoch versorgt, betonte Marx.

Das Kleeblattkonzept

Unter dem Eindruck der ersten Corona-Welle hatten Bund und Länder im Frühjahr 2020 ein Konzept für die bundesweite Verlegung von Covid-19-Patienten entwickelt, die intensivmedizinisch behandelt werden müssen. Im September vergangenen Jahres wurde das sogenannte Kleeblattkonzept dann durch die Innen- und Gesundheitsminister beschlossen. Es beruht auf einem dreistufigen System - grün, gelb, rot.

Wenn die Stufe «rot» erreicht ist, wird der Verlegungsbedarf zwischen den fünf Regionen - West, Nord, Ost, Süd, Südwest - über einen jeweils vorab definierten Koordinator organisiert, im Austausch mit dem Gemeinsamen Melde- und Lagezentrum von Bund und Ländern beim Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK). Eine Fachgruppe des Robert Koch-Instituts berät dabei. Nach Auskunft des BBK fanden in der vierten Welle bisher keine Verlegungen über die einzelnen Kleeblätter hinaus statt.

Dennoch: Der schwer von Corona getroffene Freistaat Sachsen muss sich nach Angaben der Landesärztekammer auf eine Triage vorbereiten. Es stünden im Freistaat nur noch wenige Betten auf den Intensivstationen zur Verfügung, sagte der Präsident der Landesärztekammer, Erik Bodendieck, dem Sender NDR Info.

Triage bedeutet, dass Mediziner aufgrund von knappen Ressourcen entscheiden müssen, wem sie zuerst helfen. Er hoffe, dass es anders komme als zurzeit prognostiziert. Sachsen sei in jedem Fall auf die Hilfe anderer Bundesländer angewiesen.

Pflegekräfte fehlen

Ein Grund für die angespannte Situation auf den Intensivstationen ist laut Divi unter anderem der Personalmangel in den Krankenhäusern. Viele Pflegekräfte hätten gekündigt oder ihre Arbeitszeit reduziert, sagte der wissenschaftlich-medizinische Divi-Leiter und Lungenfacharzt Christian Karagiannidis. Im Vergleich zum letzten Jahr stehen der Divi zufolge nun rund 4000 Intensivbetten weniger zur Verfügung.

Marx appellierte an die Politik, sich für den Fall einer weiter ungebremsten Corona-Ausbreitung zu wappnen. Falls das vorige Woche beschlossene Paket nicht ausreichend greife, sollten für den 9. Dezember zusätzliche Maßnahmen gegen die vierte Welle vorbereitet werden, sagte Marx. Bund und Länder wollen die Wirksamkeit der Maßnahmen in dem vom Bundestag verabschiedeten Infektionsschutzgesetz am 9. Dezember überprüfen.

Einig sind sich die Experten darüber, dass die Impfung derzeit den wirksamsten Schutz gegen Corona bietet und auch die Intensivstationen lange vor dem Überlaufen bewahrt hat. «Je höher die Impfquote ist, umso höher kann die Inzidenz gehen», ohne dass die Intensivstationen vollliefen, sagte Andreas Schuppert, Modellierer der Divi. «Man muss aber auch dazusagen, dass wir in den bisherigen Wellen noch nie Inzidenzen von der Größe gesehen haben, die wir heute sehen.» Der sogenannte «Impfbonus» sei mittlerweile jedoch ausgeschöpft.

© dpa-infocom, dpa:211122-99-99785/4