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Analyse
Postengeschacher: Nun gibt es Ärger in der Koalition

EU-Sondergipfel
Strippenzieher: Donald Tusk, Präsident des Europäischen Rates, hatte Bewegung in den Streit um die höchsten EU-Ämter gebracht. Foto: Geoffroy Van Der Hasselt/AFP Pool
Am Ende konnten sich die Staats- und Regierungschefs nach vielen Verhandlungsstunden doch noch auf das künftige EU-Spitzenpersonal verständigen. Merkel freut das. Doch jetzt hat sie Ärger in der großen Koalition.

Brüssel (dpa) - Kanzlerin Angela Merkel war sichtlich bemüht, deutlich zu machen, dass sie bis zum Schluss am Prinzip des Spitzenkandidaten festgehalten hat.

Und sie habe auch bis zuletzt für den Kandidaten der Europäischen Volkspartei (EVP), Manfred Weber, als neuen Kommissionschef gekämpft. Doch es habe nichts genutzt. Das Spitzenkandidatenmodell habe eben noch erhebliche Schwächen, die es in den kommenden Jahren zu beseitigen gelte.

Und indirekt machte sie deutlich, dass der Vorschlag, nun Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) für den Posten der Kommissionspräsidentin zu nominieren, nicht von ihr gekommen sei - die Ministerin genieße eben viel Anerkennung unter den Staats- und Regierungschefs, argumentierte Merkel. Dem Vernehmen nach soll in den verfahrenen Beratungen der Regierungschefs zuerst Frankreichs Präsident Emmanuel Macron am Montagmittag die Idee gehabt haben, von der Leyen zu nominieren. Dann sei Spaniens Regierungschef Pedro Sanchez gefolgt und schließlich habe Ratspräsident Donald Tusk den Gedanken aufgegriffen.

Gleichwohl: Sie freue sich, dass mit Ursula von der Leyen erstmals eine Frau den einflussreichen Posten innehaben könnte - wenn das Europaparlament zustimme, sagte Merkel am Dienstagabend zum Abschluss des Sondergipfels. Für den Koalitionspartner SPD ist dies allerdings ein schwerer Brocken. Lange hatten die Sozialdemokraten gehofft, es laufe auf den niederländischen Parteifreund Frans Timmermans hinaus, nachdem Macron Weber von vorneherein die Befähigung zum Kommissionspräsidenten abgesprochen hatte. Daraus wurde dann doch nichts.

Die SPD-Mitglieder im Bundeskabinett, voran Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz, hielten - jedenfalls vorerst - die Füße still. Aber von Sozialdemokraten und Grünen im Europaparlament hagelte es schon vor der offiziellen Nominierung der deutschen Verteidigungsministerin heftige Kritik. Und auch die kommissarische SPD-Spitze in Berlin lehnt von der Leyen strikt ab. «Damit würde der Versuch, die Europäische Union zu demokratisieren, ad absurdum geführt», kritisierten Manuela Schwesig, Malu Dreyer und Thorsten Schäfer-Gümbel.

Zu möglichen Konsequenzen für die große Koalition in Berlin äußerten sich die kommissarischen SPD-Chefs nicht. Wenn es in der SPD aber richtig zu rumoren beginnt, könnte sich dies auf die in wenigen Monate anstehende Entscheidung auswirken, ob die Partei in der großen Koalition bleibt oder nicht. Eine Revisionsklausel im Koalitionsvertrag sieht eine solche Entscheidung zur Halbzeit vor.

Für Merkel ist es das letzte Mal, dass sie nach einer Europawahl bei der Besetzung und Verteilung der Spitzenämter in der Gemeinschaft mitmischt. Und der Ausgang der Wahl, daran sei erinnert, brachte wahrlich keine klaren Machtverhältnisse mit sich. Die Zeiten, da sich EVP und Sozialisten bei den wichtigen Personalien die Bälle zuspielen, sind vorbei.

Die Konkurrenten nutzen das weidlich aus und schlagen schon mal Pflöcke ein - für die Nach-Merkel-Ära. Macron legte vor: Manfred Weber gehe gar nicht, zu jung, zu unerfahren. Ein unfreundlicher Akt, gegen Merkel und die CSU. Merkel kritisierte das in ihrer Pressekonferenz wiederholt.

Noch mehr kann sich Macron freuen, dass sich das von Merkel unterstützte Spitzenkandidatenprinzip, weder bei Weber noch bei Timmermans durchsetzen ließ. Die Verfechter dieses Prinzips wollen, dass Kommissionschef nur ein bei der Euroawahl angetretener Spitzenkandidat wird. Macron war von vorneherein dagegen. Merkel sagte nun, man müsse zusammen mit dem Parlament über Regeln nachdenken, damit eine solch missliche Situation nicht mehr eintreten könne.

Auch Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban kann sich die Hände reiben. Als Merkel mit Macron beim G20-Gipfel in Osaka einen neues Personaltableau mit Timmermans als Kommissionschef aushandelte, legte er mit einem Schreiben an EVP-Chef Joseph Daul den Spaltpilz in die konservative Parteienfamilie. Die EVP sei die stärkste Fraktion. Sie könne doch nicht dieses Mandat an einen Sozialisten abgeben. Damit waren die vier Visegradstaaten insgesamt - Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei - und auch Italien gegen das Timmermans-Tableau.

Merkel fiel sowohl ihr Festhalten an dem Spitzenkandidatenprinzip auf die Füße als auch ihr Kompromiss beim Personal. Gerade die Personaldebatten brachten die Brüche innerhalb der EU und auch innerhalb der EVP offen zutage.

Die vier Staaten hätten ihr Veto am Sonntag und Montag 21 Stunden lang immer wieder deutlich gemacht, erklärte der tschechische Regierungschef Andrej Babis. «Ich verstehe nicht, warum die Premiers von Frankreich, Spanien, den Niederlanden und Deutschland 21 Stunden lang nicht verstanden haben, dass die Visegrad-Gruppe nur erreichen will, dass dieser Mann (Timmermans) nicht Vorsitzender der EU-Kommission wird.»

Timmermans habe sich «sehr negativ profiliert» und habe «bestimmte Vorurteile gegenüber unserer Region», kritisierte Babis, Gründer der liberal-populistischen Partei ANO. Was hatte Timmermans getan? Als Erster Vizepräsident der derzeitigen EU-Kommission war er unter anderem für den Rechtsstaat zuständig. Dem Sozialdemokraten fiel also die undankbare Aufgabe zu, Warschau oder Budapest immer wieder zur Einhaltung europäischer Grundrechte zu drängen - notfalls am Europäischen Gerichtshof.

Nach 20 Beratungsstunden musste Merkel am Montag erkennen, dass dieses Tableau, egal wie sie es drehte oder wendete, nicht funktionierte. Ihre Kompromisssuche insgesamt war fehlgeschlagen. Mit diesem Ränkespiel, mit dieser Art der Entscheidungsfindung beschädige die EU ihr Image, sagt Macron, der ja einen Gutteil selber dazu beitrug. Wenn er damit meint, dass dieses Gezerre den Unmut der Europäer erhöhe und den Populisten und Nationalisten in die Hände spielen könnte, dürfte er nicht ganz falsch liegen.