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Gedenken zum 10. Jahrestag
Winnenden: «Zeit heilt Wunden - das stimmt hier nicht»

Amoklauf Winnenden
Datum und Uhrzeit des Amoklaufs von Winnenden stehen im Gedenkraum der Albertville-Realschule an einer Wand. Foto: Marijan Murat
Jahrestag
Rosen stehen während der Gedenkfeier zum 10. Jahrestag des Amoklaufs auf dem «Gebrochenen Ring», der an die Opfer erinnert. Foto: Sebastian Gollnow
Rede
Hartmut Holzwarth, Oberbürgermeister der Stadt Winnenden, spricht während der Gedenkfeier. Foto: Sebastian Gollnow
Gedenkstätte
Die meisten Opfer waren 15 oder 16 Jahre alt. Foto: Sebastian Gollnow
An den Händen halten
Schüler halten sich während der Gedenkfeier in einer Menschenkette an der Hand. Ein ehemaliger Schüler hatte am 11. März 2009 in der Albertville-Realschule sowie auf der anschließenden Flucht 15 Menschen erschossen. Foto: Sebastian Gollnow
Erinnerung
Ein Denkmal, das an die Opfer des Amoklaufs erinnert. Foto: Marijan Murat
Warum?
Warum? Transparente liegen vor der Albertville-Realschule, aufgenommen wenige Tage nach dem Amoklauf. Foto: Patrick Seeger/Archiv Foto: dpanitf3
Einschusslöcher
Auf dem Hof eines Autohauses endete der Amoklauf des 17-jährigen. Foto: Boris Roessler/Archiv
Die Erinnerung an den Amoklauf ist wach in Winnenden, und sie schmerzt. Zum Jahrestag kommen wieder Hunderte Menschen an der Gedenkstätte mitten in der Stadt zusammen - leicht fällt das vielen auch nach zehn Jahren nicht.

Winnenden (dpa) - Als um 9.33 Uhr die Kirchenglocken in Winnenden ertönen, hüllt sich der Platz an der Gedenkstätte in Schweigen. Hunderte Menschen stehen dort - jeder ist nun mit seinen Gedanken, mit seinen Erinnerungen für sich.

«Kaum einer in Winnenden ist nicht betroffen», sagt Christina Riedl. Ihr Vater war Lehrer an der Albertville-Realschule, an der ein ehemaliger Schüler am 11. März 2009 das Feuer eröffnete.

Der Vater überlebte den Amoklauf, acht Schülerinnen, ein Schüler und drei Lehrerinnen werden ermordet. Der 17 Jahre alte Amokläufer tötet auf seiner Flucht nach Wendlingen drei weitere Menschen und schließlich sich selbst. «Jeder hier weiß, was er an dem Tag gemacht hat. Der Tag hat sich eingebrannt», sagt Riedl.

Zum zehnten Jahrestag kommen rund 350 Menschen: Angehörige, ehemalige Schüler, Einwohner. Innenminister Thomas Strobl und Kultusministerin Susanne Eisenmann (beide CDU) sind angereist, Kamerateams und Fotografen haben sich postiert.

An den Medienauflauf zu den Gedenktagen scheinen die Trauernden gewöhnt zu sein - doch im Umgang mit dem Schock, der damals in die Kleinstadt im Rems-Murr-Kreis fuhr, will sich keine Routine einstellen. «Es ist so bitter für uns. Das fällt auch nicht leichter mit jedem Jahr», sagt eine Frau, deren Arbeitskollege beim Amoklauf seinen Sohn verlor.

Von der Realschule bilden heutige Schüler eine Menschenkette hin zum nahe gelegenen Stadtpark, wo ein Mahnmal an die Ermordeten erinnert. Ihre Namen sind innen in dem tonnenschweren «Gebrochenen Ring» zu lesen - die meisten waren 15 oder 16 Jahre alt.

«Jedes Mal, wenn man hier vorbeifährt, denkt man daran», sagt die 18 Jahre alte Jil Weber. Sie ging noch zur Grundschule, als sich die Bluttat ereignete. Die junge Frau erinnert sich: Die Rollos seien auf einmal runtergegangen. Später hätten Eltern oder Großeltern die Schüler abgeholt. «Jetzt realisiert man viel mehr als früher, was damals eigentlich geschah.»

Gemeinsam mit anderen Frauen liest Jil Weber zehn Jahre später die Namen der Ermordeten vor. Es ist - neben dem Läuten der Kirchenglocken zum Zeitpunkt des ersten Notrufs oder den 15 weißen Rosen am Mahnmal - eines der Rituale, mit denen man in Winnenden versucht, das Unfassbare zu greifen.

«Das Verlesen der Namen ist jedes Mal ein Stich ins Herz. Wenn man den Namen seines Angehörigen hört, wird aber jedes Mal ein Stück klarer, dass das so passiert ist - das hilft beim Schritt zur Akzeptanz», sagt der Psychologe Georg Pieper. Er gilt als einer der erfahrensten Trauma-Experten in Deutschland. Gedenktage sind seiner Ansicht nach extrem wichtig. «Es gibt viele Betroffene, die sagen, ich brauche so was nicht, ich denke eh jeden Tag daran. Das ist richtig, aber im Alltag ist das häufig so nicht möglich.»

Vor allem zehn Jahre danach, wenn manch ein Bekannter oder Kollege denke: Da sei doch jetzt Gras drüber gewachsen. Pieper hat Opfer und Angehörige nach dem Amoklauf von Erfurt 2002, nach der ICE-Katastrophe von Eschede 1998 und nach dem Grubenunglück von Borken 1988 betreut. Für die meisten Angehörigen und Direktbeteiligten fühlten sich zehn Jahre wie eine kurze Zeit an: «Das Trauern, das Verarbeiten, für viele ist das ein lebenslanger Prozess», sagt der Psychologe.

«Zeit heilt alle Wunden - das stimmt hier nicht», sagt Andreas Söltzer. Seine Kinder, damals neun und elf Jahre alt, besuchten nicht die Albertville-Realschule, aber ein Gedanke habe sich damals breit gemacht: «Es hätte unser Kind treffen können», so Söltzer. «Man kann nicht rückgängig machen, was passiert ist. Aber man kann etwas dafür tun, dass das nie mehr passiert.»

Das macht er im Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden, das kurz nach der Tat von Angehörigen ins Leben gerufen wurde. Das Bündnis, aus dem die Stiftung gegen Gewalt an Schulen hervorging, setzte sich erfolgreich für Kontrollen zur Aufbewahrung von Waffen in Privathaushalten ein, engagiert sich für mehr Sicherheit an Schulen, gegen Gewalt und Mobbing.

Winnendens Oberbürgermeister Hartmut Holzwarth (CDU) betont in seiner Rede am Montag, man sei nicht allein mit Trauer und Leid. «Wir fühlen deswegen heute mit allen Menschen, in jedem Land in der ganzen Welt, die von einem Amoklauf, von Terror oder gar Krieg betroffen sind.» Er wünschte allen «die notwendige Achtsamkeit, um auch in Zukunft gut miteinander leben zu können.»