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Soziales
Hartz-IV-Sanktionen: Strobl will mehr Druck ausüben

Thomas Strobl (CDU)
Thomas Strobl (CDU), Innenminister von Baden-Württemberg, spricht. Foto: Marijan Murat
Fördern und Fordern - so sollten Arbeitslose wieder Jobs bekommen. Nun werden die Hartz IV-Sanktionen vorerst aber ausgesetzt. Ein schwerer Fehler, sagt Innenminister Strobl. Viele Arbeitslose müssten mehr unter Druck gesetzt werden. Damit liegt er falsch, sagen andere.

Stuttgart. Nach der weitgehenden Aufhebung der Hartz-IV-Sanktionen müssen arbeitsunwillige Arbeitslose aus Sicht des CDU-Landesvorsitzenden Thomas Strobl stärker unter Druck gesetzt werden, damit sie Jobangebote annehmen. Es müssten vielmehr Kürzungen angedroht und durchgesetzt werden, wenn wiederholt angebotene Stellen nicht besetzt würden. Die Änderung der Sanktionspraxis für Hartz-IV-Empfänger durch die Berliner Ampel-Koalition sei ein «schwerer Fehler» gewesen, sagte Strobl.

Es gebe in Deutschland rund 1,9 Millionen offene Stellen und etwa 1,6 Millionen Hartz-IV-Empfänger, die arbeiten könnten, sagte der CDU-Politiker. In Arbeitsagenturen heiße es aber, den Mitarbeitern seien die Hände gebunden. «Es gibt da jene, die Termine nicht wahrnehmen, sich nicht für Jobangebote, Weiterbildungsmaßnahmen und dergleichen mehr interessieren und so den Jobvermittlern eine lange Nase zeigen», kritisierte Strobl. «Und das erweckt den Anschein, dass es völlig egal ist, ob jemand, der arbeiten kann, auch tatsächlich arbeitet oder nicht.»

Der Grundsatz «Fördern und Fordern» müsse wieder gepflegt werden. «Wir müssen von einem Menschen, der Sozialleistungen bezieht, auch etwas fordern.» Er müsse zum Beispiel zu bestimmten ausgemachten Terminen auch erscheinen. «Das ist ein schwerer Fehler in dieser Zeit, das anders zu akzeptieren.» Im Grunde genommen gebe es bereits heute ein bedingungsloses Grundeinkommen.

Von seinem grünen Koalitionspartner kassiert Strobl für solche Aussagen heftige Kritik: «Wer Menschen das Geringste nimmt, setzt auf Angst und Abschreckung und gefährdet wegen ein paar Euro ganze Existenzen», warf ihm der Grünen-Landesvorsitzende Pascal Haggenmüller vor. Für die CDU sei ein starker Staat offenbar einer, der auf Abschreckung und Züchtigung setze. Langzeitarbeitslose könne man mit Sanktionen zwar drangsalieren, aber eben nicht in Arbeit bekommen.

Auch die Diakonie Württemberg widersprach dem CDU-Landeschef. «Unsere Erfahrung ist, dass arbeitslose Menschen in den meisten Fällen auch arbeiten wollen, dass sie unter ihrer Situation leiden», sagte die Diakonie-Vorsitzende Annette Noller der dpa. «Menschen wollen ihren Beitrag leisten, sie wollen teilhaben. Wir müssen sie begleiten und fördern.» Sie könne sich Sanktionen höchstens als behutsam angewandtes Mittel vorstellen, um Menschen einen Anschub zu geben.

Arbeitslose seien aber oft auch schwer zu vermitteln, weil sie Angehörige pflegen oder Kinder erziehen müssten - oder aufgrund persönlicher Problemlagen wie einer Erkrankung. «Offene Stellen und die Zahl arbeitsloser Hartz-IV-Empfänger kann man nicht 1:1 vergleichen», sagte Noller. «Außerdem müssen Schuhe auch zu den Füßen passen. Ein Lagerarbeiter kann nicht einfach zur Pflegekraft werden.» Noller warnte vor einem «Drehtüreffekt». «Unter dem Sanktionsdruck nehmen viele Menschen eine Arbeit auf, verlassen sie aber schnell wieder, weil die innere Akzeptanz fehlt oder sie überfordert sind.»

Auch Strobl räumte ein, dass sich viele Hartz-IV-Empfänger bemühten, Arbeit zu finden. «Aber hinsichtlich der anderen, der «schwarzen Schafe», frage ich: Ist das gerecht gegenüber dem Pfleger oder der Polizistin oder dem Lkw-Fahrer, die durch ihre Arbeit und ihre Steuern diejenigen finanzieren, die sich eben dafür entscheiden, lieber auf der Couch liegen zu bleiben als sich um eine Beschäftigung zu bemühen?» Wer sich nicht bemühe, Termine nicht wahrnehme oder sich nicht für Fortbildung interessiere, dem müssten Leistungen gekürzt werden, forderte Strobl, der auch baden-württembergischer Innenminister ist. «Nicht sofort, nicht unmenschlich, aber in einem sorgfältig ausdifferenzierten, abgewogenen System.»

Über die Sanktionen wird gestritten, seit Hartz IV im Jahr 2005 eingeführt wurde. Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2019 ist entschieden worden, Sanktionen für ein Jahr auszusetzen. Ein Grund für das Moratorium ist das für 2023 geplante Bürgergeld anstelle des heutigen Hartz-IV-Systems, das auch mit einer Neuregelung bei den Sanktionen verbunden sein soll.

Ausgesetzt wird für ein Jahr die Möglichkeit, das Arbeitslosengeld II bei einer Pflichtverletzung um 30 Prozent zu mindern. Das gilt etwa, wenn eine zumutbare Arbeit nicht angenommen wird. Bei wiederholten Meldeversäumnisse oder Terminverletzungen drohen allerdings auch künftig Leistungskürzungen von bis zu 10 Prozent des Regelsatzes. Wenn im nächsten Jahr das neue Bürgergeld kommt, sollen Kürzungen um 30 Prozent wieder möglich sein.

Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit haben die Jobcenter in Baden-Württemberg im vergangenen Jahr 14.690 Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger festgestellt, betroffen davon waren 10.119 Menschen. Allerdings ist die Bilanz noch stark von der Pandemie abhängig. Zum Vergleich: 2019 wurden 50.481 Sanktionen festgestellt, 26.042 Menschen wurden sanktioniert.

«Das betrifft eben nur einen sehr kleinen Teil von Personen, bei denen man eine Verhaltensänderung bezwecken möchte, weil sie eben Arbeitsangebote sonst nicht annehmen würden», sagte Joachim Wolff vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. Es gehe zum anderen um Menschen, die große Schwierigkeiten hätten, längerfristig und stabil in Arbeit zu kommen. «Das ist keine heterogene Gruppe», sagte Wolff.

© dpa-infocom, dpa:220902-99-602334/3