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Energiekrise
Drosselung von Nord Stream 1: Optimismus bei Gasgipfel weg

Winfried Kretschmann
Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen), Ministerpräsident von Baden-Württemberg, gestikuliert. Foto: Marijan Murat
Putin ist unberechenbar. Darin waren sich alle Teilnehmer des Gasgipfels in Stuttgart einig. Und kaum ist das Krisentreffen mit hoffnungsvoller Botschaft vorbei, drosselt Gazprom die Lieferungen weiter.

Stuttgart. Mit einem Appell zum massiven Energiesparen hat ein Krisengipfel der Landesregierung die Menschen im Südwesten auf Herbst und Winter eingestimmt. Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Energieministerin Thekla Walker (beide Grüne) zeigten sich am Montagmittag noch optimistisch, dass mit Sparanstrengungen die Füllmenge in den Gasspeichern ausreichen werde, um den Winter zu überstehen. «Wir haben es alle selbst in der Hand», sagte Kretschmann nach dem Treffen mit Wirtschaft, Kommunen und Versorgern in Stuttgart. «Putin will uns vorführen und spalten. Das werden wir nicht zulassen». Doch wenige Stunden nach Ende des Gipfels wurde deutlich, wie fragil die Lage ist. Da kündigte der russische Konzern Gazprom an, dass von Mittwoch an nur 20 Prozent Gas täglich durch die wichtigste Versorgungsleitung nach Deutschland fließen werde.

Zuvor hatte Kretschmann noch die Parole ausgegeben, dass der Südwesten eine Gasmangel-Lage selbst vermeiden könne, wenn Verbraucher, Wirtschaft und Kommunen ihren Gasverbrauch um ein Fünftel senken. Voraussetzung für dieses positive Szenario war aber, dass durch die Gaspipeline Nord Stream 1 weiter 40 Prozent der Lieferkapazität fließt. Auch Walker sagte, das Motto müsse nun sein: «Spare in der Zeit, dann hast du in der Not.» Die Gasspeicher könnten dann soweit gefüllt sein, dass man gut über den Winter komme. Doch durch die Ankündigung von Gazprom dürfte sich die Lage wieder geändert haben. Hoffnung setzt das Land darauf, dass man demnächst Gas aus Frankreich über das Saarland in den Süden transportieren könnte.

Der Koalitionspartner CDU und auch die Handelskammern und das Handwerk waren schon nach dem Gasgipfel weniger optimistisch gewesen. Innenminister Thomas Strobl (CDU) sagte: «Die Lage ist sehr ernst». Noch halte man es für angebracht, mit Appellen an die Vernunft der Menschen zu arbeiten. Im Fall einer Notlage werde man dagegen mit Verboten und Geboten das Energiesparen durchsetzen müssen. «Um gut durch eine Krise zu kommen, muss man sie in all ihren Facetten vorausdenken. Wir müssen uns das Unvorstellbare vorstellen, um uns gut vorzubereiten.» Man bereite sich auch beim Bevölkerungsschutz auf eine Zuspitzung der Lage vor: «Auf den worst case.»

Auch Christian Erbe, Vizepräsident des Baden-Württembergischen Industrie- und Handelskammertag, sagte, man könne Russlands Präsident Wladimir Putin nicht trauen. Am einen Tag lasse er Getreidelieferungen aus der Ukraine wieder zu, am nächsten Tag lasse er den wichtigsten Hafen dafür bombardieren. «Wir dürfen uns nicht darauf verlassen, dass Nord Stream 1 auf lange Zeit betrieben wird», warnte Erbe. Die Industrie stelle sich darauf ein, «intelligent und strategisch zu sparen».

FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke sagte am Montagabend der dpa, das Ergebnis des Gipfels sei durch die Gazprom-Ankündigung schon wieder überholt. «Kretschmanns 20-Prozent-Einspar-Rechnung basierte auf einer 40-Prozent-Lieferannahme durch Putin. Mit dieser Halbierung wird nun klar, dass durch homöopathische Einsparungen allein eine Gasmangellage nicht verhindert werden kann.» Rülke forderte, man müsse dringend darüber reden, die Gasverstromung zu beenden und durch eine Laufzeitverlängerung der drei Atomkraftwerke zu ersetzen. Auch AfD-Fraktionschef Bernd Gögel hält diese Maßnahme für erforderlich.

Kretschmann sagte, beim Gipfel sei die AKW-Laufzeitverlängerung kein Thema gewesen. Er zeigte sich nach dem Gipfel überzeugt, dass Baden-Württemberg bei einer echten Mangel-Lage nicht benachteiligt werde. Im Gespräch mit dem Chef der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, habe man noch mal hinterlegt, dass die starken Unternehmen im Südwesten nicht die «Gekniffenen» sein dürften. Auch hier sei das Energiesparen eine wichtige Voraussetzung. «Ich bin zuversichtlich, dass das nicht eintreten wird, wenn wir das machen, was wir uns jetzt vorgenommen haben.» Walker erklärte: «Der Südwesten ist weder geografisch, noch was die Netzsituation angeht, abgehängt.» Es sei ganz schwer vorherzusagen, was bei einer Zuspitzung der Lage passiere.

CDU-Landeschef Strobl forderte den Bund auf, eine Benachteiligung des Südwestens unbedingt zu vermeiden. «Es ist ganz wichtig, dass der Bund, die Bundesnetzagentur, für eine gleichmäßige, bedarfsgerechte und damit gerechte Verteilung des Gases im gesamten Netz der Bundesrepublik sorgt.»

Netzagentur-Chef Müller, der per Video zum Gipfel zugeschaltet war, hält das Ziel eines Gasspeicher-Füllstands von 90 oder 95 Prozent zum 1. November für unrealistisch. Im besten Fall seien maximal 80 bis 85 Prozent zu erreichen, sagte er nach Angaben von Teilnehmern. Und das klappe auch nur, wenn das Gas durch Nord Stream 1 weiter zu 40 Prozent ströme. Derzeit liegt der Füllstand bei 65,9 Prozent. Er gab demnach zu bedenken, dass die Füllstände in vielen Nachbarländern niedriger seien. Das Ziel der Bundesregierung und der Netzagentur sei ebenfalls, 20 Prozent Gas einzusparen, um sich für den Winter vorzubereiten. «Wir liegen im Moment bei etwa 14 Prozent Einsparung. Ohne zusätzliche Anstrengung kommen wir da im Winter nicht hin», sagte Müller.

Der Chef der Netzagentur versicherte, dass man dafür sorgen wolle, eine Gasmangel-Lage in Deutschland zu verhindern. Auch habe er im Blick, dass der Süden nicht benachteiligt werde. Grundsätzlich haben Privathaushalte bei Ausfällen der Gasversorgung Vorrang vor Unternehmen. Die Frage ist aber, welche Firmen als systemrelevant eingestuft und dann weiterversorgt werden. Hier werde es eine Plattform geben, auf der Unternehmen ihre Bedürfnisse einspeisen können, erklärte Müller.

© dpa-infocom, dpa:220724-99-140521/7