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Maßregelvollzug-Streit: Land will Kommunen notfalls zwingen

Ex-JVA Heidelberg
Die Gebäude der ehemaligen Heidelberger Außenstelle der Justizvollzugsanstalt Mannheim. Foto: picture alliance/Uwe Anspach/dpa/Archivbild
Die Zentren für Psychiatrie im Land platzen aus allen Nähten. Das Land versucht Platz zu schaffen, kann aber mit der wachsenden Zuweisung psychisch kranker Straftäter durch die Gerichte nicht mithalten. Die Folge: Straftäter müssen freigelassen werden.
Stuttgart.

Stuttgart (dpa/lsw) - Im anhaltenden Streit um den dringend notwendigen Ausbau des Maßregelvollzugs will das Land Kommunen notfalls gegen ihren Willen zur Zusammenarbeit zwingen. «Das Sicherheitsrisiko halte ich für so relevant, dass wir gegebenenfalls dem Wunsch einer Kommune nicht entsprechen können», sagte Justizministerin Marion Gentges (CDU) zur Ablehnung einiger Städte und Gemeinden, die als Standorte in Frage kommen würden. Derzeit sind die Stadt Heidelberg und das Sozialministerium bei der Nutzung des ehemaligen Gefängnisses «Fauler Pelz» für den Maßregelvollzug auf Konfrontationskurs.

Zeitdruck und Platzmangel könnte auch aus Sicht des Sozialministeriums dazu führen, dass eine Kommune nachgeben muss. Allerdings unterscheidet das Haus von Sozialminister Manne Lucha (Grüne) zwischen befristeten und oft aus der Not geborenen Lösungen wie dem «Faulen Pelz» und längerfristig planbaren Neubauprojekten. Bei diesen werde «ein möglichst großes Einvernehmen des Landes mit den Kommunen angestrebt», teilte das Ministerium mit und betonte: «Klares Ziel ist auf jeden Fall, sich mit den Kommunen zu verständigen, das ist gar keine Frage.»

Im Maßregelvollzug sollen straffällige Patienten auf ein sucht- und straffreies Leben vorbereitet werden. Zwar sind die Kapazitäten in den baden-württembergischen Kliniken nach Angaben des Sozialministeriums seit 2017 um 24 Prozent gesteigert worden. Allerdings haben die Gerichte in den vergangenen Jahren immer mehr Straftäter in dem Maßregelvollzug geschickt. Die Zahl der gerichtlichen Zuweisungen ist zwischen 1996 und 2020 um mehr als 45 Prozent gestiegen - von 237 Fällen im Jahr 2016 auf 345 Fälle im Jahr 2020. Das geht aus der Antwort von Justizministerin Marion Gentges (CDU) auf eine FDP-Anfrage hervor.

In den meisten Zentren für Psychiatrie werden Patienten bereits auch in Besucher-, Gemeinschafts- und Funktionsräumen untergebracht. Mancherorts werden Container belegt. Einige Patienten sind in andere Bundesländer verlegt worden. Allerdings können nicht mehr alle verurteilten Betroffenen innerhalb der von der Rechtsprechung anerkannten Frist aufgenommen werden. Die Folge: Straftäter müssen zumindest vorübergehend auf freien Fuß gesetzt werden.

«Können wir nicht zügig in den Maßregelvollzug überstellen, dann dürfen wir die betroffenen Menschen auch nicht in der Strafhaft belassen, denn sie sind ja nicht zur Strafhaft verurteilt worden», erklärte Gentges. Im zu Ende gehenden Jahr hätten Gerichte bislang bei rund 30 Menschen die vorübergehende Organisationshaft aufgehoben, weil ihnen nicht rechtzeitig Plätze im Maßregelvollzug zur Verfügung gestellt werden konnten. «Sie kommen also wieder auf freien Fuß, bis im Maßregelvollzug Platz ist für sie», sagte Gentges.

Insgesamt sitzen nach Angaben der Ministerin derzeit rund 120 Menschen in sogenannter Organisationshaft. Im Durchschnitt könne erst nach neun Monaten ein Platz im Maßregelvollzug angeboten werden. «Das geht weit über das hinaus, was nach Ansicht der Gerichte als Organisationshaft zulässig ist», sagte Gentges und warnte: «Wir laufen da auf ein enormes Risiko zu, wenn die Gerichte diese Menschen alle in Freiheit entlassen müssen.» Auch das Sozialministerium räumt ein, dass die Aufnahmetermine, die genannt werden können, deutlich über dem liegen, was von der Rechtsprechung als angemessen angesehen wird.

Die Gefahr sei offenkundig. Es handele sich um Straftäter, bei denen die medizinisch-psychiatrischen Voraussetzungen für eine Unterbringung vorlägen. «Es gibt eine Wiederholungsgefahr, außerdem müssen sie eigentlich dringend behandelt werden», sagte Gentges. «Schickt man alle in die Freiheit, ist es eher eine Frage, wann und weniger, ob jemand rückfällig wird.»

Wegen des Platzmangels im Land soll unter anderem das ehemalige Gefängnis «Fauler Pelz» in Heidelberg für den Maßregelvollzug genutzt werden. Das Sozialministerium betont, es handele sich «um eine vorübergehende, aus der Not geborene Lösung, die kurzfristig realisiert werden muss». Heidelbergs Oberbürgermeister Eckart Würzner befürchtet dagegen, psychisch kranke Straftäter in einer Dauerlösung in der Stadt halten zu müssen. Derzeit plant das Land die Handwerker für den laufenden Monat ein. Im August 2022 sollen die ersten Patienten dort behandelt werden. Neben Heidelberg hat Sozialminister Manne Lucha (Grüne) weitere Standorte in Winnenden und Schwäbisch Hall ins Auge gefasst.

© dpa-infocom, dpa:220109-99-642053/2