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Neun Stimmen mehr als nötig
Zittersieg für Ursula von der Leyen

Knapp gewählt
Es war knapp, aber es hat gereicht: 383 Stimmen erhielt Ursula von der Leyen bei der Abstimmung, 374 waren notwendig. Foto: Marijan Murat
Die deutsche Verteidigungsministerin wird Präsidentin der Europäischen Kommission - ein Neuanfang in Brüssel. Aber was für ein Ergebnis.

Straßburg (dpa) - Am Ende hat es knapp gereicht. Ursula von der Leyen wird Präsidentin der Europäischen Kommission. Doch ein strahlender Sieg sieht anders aus.

Bevor das Ergebnis am Dienstagabend im Europaparlament offiziell verlesen wird, sitzt die 60-Jährige mit einem sehr schmalen Lächeln auf ihrem Platz und zuckt fast unmerklich mit der Augenbraue. Nur 383 Abgeordnete haben für sie gestimmt, gerade einmal neun Stimmen über der nötigen absoluten Mehrheit. Aber nun: Es hat gereicht.

Sie fühle sich geehrt, sagt von der Leyen in ihrer ersten kurzen Ansprache nach der Wahl. Es sind nur wenige Sätze. Der vielleicht wichtigste: «Das Vertrauen, das Sie in mich gesetzt haben, ist das Vertrauen, das sie in Europa gesetzt haben!»

Nur mit äußerster Mühe und großen Versprechen hat von der Leyen die Widerstände vieler Abgeordneten überwunden. Viele waren noch vor Tagen schwer erbost über diese Kandidatin, die Anfang Juli über ihre Köpfe hinweg von den Staats- und Regierungschefs ausgewählt wurde. Nun haben sie ihr einen Vertrauensvorschuss gegeben - die befürchtete Selbstblockade der Europäischen Union ist abgewendet und wohl auch größerer Streit in der großen Koalition in Berlin. Jetzt muss die CDU-Politikerin liefern: «Ein Europa, das mehr will», hat sie versprochen.

Dass sie es überhaupt geschafft hat, genug Rückhalt zu gewinnen, liegt auch an ihrer engagierten Rede im Plenum an diesem Dienstagmorgen. Von der Leyen ist anfangs sichtlich nervös, immer wieder blickt sie auf ihr Manuskript, verfasst in drei Sprachen.

Sie beginnt mit dem Staatstragenden - Europa als Friedens- und Wohlstandsprojekt, das sich neu finden muss in einer sich rasant wandelnden Welt. Sie schließt mit dem Persönlichen, einer Erinnerung an ihren Vater, den früheren niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht, den sie mit den Worten zitiert: «Europa ist wie eine lange Ehe. Die Liebe wird nicht größer als am ersten Tag, aber sie wird tiefer.»

Dazwischen referiert die Kandidatin erstaunlich detailliert ihre politischen Zusagen für die nächsten fünf Jahre. In ihrem Bemühen, vor allem Stimmen der proeuropäischen Mitte zu gewinnen, hat sie ihrem politischen Programm eine enorme Bandbreite von Forderungen und Plänen einverleibt. Teils gehen sie weit über die bisherigen Positionen ihrer eigenen Parteienfamilie Europäische Volkspartei hinaus, die sich das staunend, aber doch loyal mit anhört.

Der Klimaschutz ist nur ein Beispiel. Bisher hat die EU versprochen, ihre Treibhausgase bis 2030 um 40 Prozent unter den Wert von 1990 zu bringen. Die EVP hielt bisher 45 Prozent für das Maximum. Von der Leyen sprach noch vor Tagen von 50 Prozent, jetzt stellt sie 55 Prozent minus in Aussicht - und liegt damit auf der Linie der Mehrheit im Parlament. Es soll Mindestlöhne in der ganzen EU geben, Digitalriesen sollen besteuert werden, eine Klimabank soll eine Billion Euro neuer Investitionen anstoßen.

Fast könnte man sagen: Von der Leyen, die grüne Präsidentin - was einigermaßen ironisch ist, da ausgerechnet die Grünen ihr standhaft die Unterstützung verweigern. Aber auch für die Liberalen - die vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron inspirierte neue Fraktion Renew Europe - ist etwas dabei. Vollen Einsatz für Rechtsstaatlichkeit verspricht von der Leyen zum Beispiel und für mehr Tempo bei der Digitalisierung Europas.

Den Sozialdemokraten stellt sie auch eine europäische Arbeitslosen-Rückversicherung in Aussicht, für Christdemokraten und Konservativen ist ein rascher Ausbau der Grenzschutztruppe Frontex und ein neuer Anlauf für ein europäisches Asylrecht im Angebot, für Italiener eine flexible Auslegung des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Alle Abgeordneten lockt sie mit einer Demokratisierung der EU und Stärkung des Parlaments. Setzt sie das wirklich alles um, dürfte die EU in fünf Jahren anders aussehen, auch für normale Bürger.

In der Debatte nach der Rede bekommt sie Zuspruch und Kritik, Lob und Häme - ein echtes Stimmungsbild ist danach schwer auszumachen. Vor allem deutsche Abgeordnete diverser Parteien wettern gegen die langjährige Bundesministerin. Die AfD-Abgeordnete Christine Anderson meint gar: «Ich, als langjährige überzeugte, inzwischen ehemalige CDU-Wählerin, sage Ihnen: Eher soll mir die Hand abfaulen, als dass ich Sie oder Ihre Partei jemals in meinem Leben wieder wählen werde.»

Den ganzen Nachmittag über wird immer wieder gerechnet. Reichen die Stimmen? Erst als sich fast alle Liberalen und etwa zwei Drittel der Sozialdemokraten auf sie festlegen, sehen die Chancen gut aus. Dass es am Ende so knapp ausgeht, hatten nur noch wenige auf der Rechnung.

Am Ende könnten ihre Unterstützertruppen den Ausschlag gegeben haben. Auf Twitter werfen sich noch während der Debatte viele für sie in die Bresche. Darunter sind auch Margrethe Vestager und Frans Timmermans. Beide wollten selbst an die Spitze der Kommission rücken, nun stellen sie sich öffentlich hinter die Rivalin. Diese hat beiden zugesagt, sie zu ebenbürtigen Vizepräsidenten der Kommission zu machen. Vielleicht der Anfang einer Aussöhnung nach viel Bitterkeit der vergangenen Wochen.