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DEMOKRATISIERUNG
Revolution in der alten Soldatenstadt

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Auf dem Marktplatz werden die zurückkehrenden Truppen empfangen. Danach werden die „Krieger“, wie in der Ludwigsburger Zeitung berichtet wird, mit gutem Essen, Bier und Zigarren bewirtet. Fotos: Hauptstaatsarchiv Stuttgart

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Ernst Reiner übernimmt als Vorsitzender des Arbeiter- und Soldatenrats die Macht, Rathaus und Garnison stimmen sich mit ihm ab.

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Nach dem Krieg hat der Monarchie die Stunde geschlagen – Arbeiter- und Soldatenrat bildet sich

Die Unruhe ist am Ende des Krieges überall zu spüren. Schon vor dem Waffenstillstand gibt es Protestversammlungen. Als sich dann in Kiel die Matrosen weigern, sich in eine letzte sinnlose Schlacht zu werfen, ist die Monarchie am Ende. Am 9. November 1918 wird in Berlin die Republik ausgerufen, ebenso in Stuttgart. In Ludwigsburg herrscht vollkommene Ruhe. Das sollte sich noch am selben Tag ändern.

 

„Etwa um 7 Uhr abends drangen einige beherzte Soldaten und Arbeiter in das Garnisonskommando im Schloss ein und verlangten von den dort versammelten Offizieren die Übergabe der Garnison. Andere Soldaten zogen zu den Kasernen, und ihr Haufen wuchs von Minute zu Minute, überall begeistert begrüßt“, berichtet der Ludwigsburger Arbeiter- und Soldatenrat im Rückblick. Schon eine Stunde später wird der Soldatenrat gebildet. Es wird ein Aufruf verfasst, Räume im Rathaus werden besetzt, in welchen „sofort eine fieberhafte Tätigkeit einsetzte“. Ernst Reiner wird Vorsitzender im Arbeiter- und Soldatenrat, auch führende SPD-Leute wie der Ortsvorsitzende Friedrich Münch beteiligen sich.

 

Am nächsten Tag versammelt sich eine „ungeheure Menschenmenge“ auf dem Arsenalplatz, SPD-Abgeordneter Wilhelm Keil – er wird später Ehrenbürger von Ludwigsburg – spricht in seiner Rede davon, dass alle demokratisch Gesinnten zusammenhalten müssen. Auch Soldatenrat Reiner fordert zur Mitarbeit an einem „neuen Staat der Freiheit und Gleichheit“ auf. Der darauf folgende Umzug durch die Stadt ist, wie Reiner berichtet, der „gewaltigste, den Ludwigsburg je gesehen hat“. Etwa 10 000 ziehen durch die Straßen, mit Fahnen und drei Musikkapellen.

 

Die Räte, die kaum ein Jahr im Amt sind, geben in dieser Zeit die Richtung vor, erweisen sich in der Phase des Umsturzes als diejenigen, die für Ruhe und Ordnung sorgen. Die Soldatenräte sind das „Organ der neuen württembergischen Volksregierung zum Schutze der errungenen demokratischen Freiheiten“, wie es in einer Resolution heißt. Das Generalkommando, das sich um die Kompanien kümmert, muss sich mit dem Arbeiter- und Soldatenrat abstimmen, die Räte halten auch engen Kontakt zur Stadtverwaltung.

 

Sie sind in Ludwigsburg mitverantwortlich für die Lebensmittelversorgung, besprechen sich mit Oberbürgermeister Hartenstein. Sie richten einen Garnisonsrat ein, der sich um die vielen Soldaten kümmert, die in der Stadt eintreffen und aus dem Dienst entlassen werden müssen. Die Stadt wird auch von Heeresgütern überschwemmt, täglich kommen bis zu 150 Waggons am Bahnhof an. Sie müssen entladen, das Material abgefahren werden, soll nicht der ganze Verkehr behindert werden. Kasernen, Schlösser, Baracken füllen sich mit den Gütern, alles muss bewacht werden. Die Räte klären Sicherheitsfragen, gehen gegen Diebstahl vor, halten Wache. Reiner erweist sich als Pragmatiker, scheut sich nicht, sich mit Offizieren anzulegen. So ist aus einem Casino Inventar versteigert worden, um damit Wichtigeres zu finanzieren. So manche Offiziere hatten ein Problem damit, dass er „nur“ Wachtmeister war. Er wird jedoch mit General von Gleich einig, der sich als Garnisonsältester um die Abwicklung der militärischen Belange in Ludwigsburg kümmern will. Doch weil er in der Öffentlichkeit keine Waffen mehr tragen darf, legt General von Gleich kurze Zeit später sein Amt nieder. „Wegen dieser kleinlichen Säbelfrage“, bedauert Reiner dessen Entscheidung.

 

Die neu eingerichtete Sicherheitstruppe zeigt, welche Macht der Arbeiter- und Soldatenrat hat. Er entscheidet, wie es mit dem Bekleidungsamt weitergeht, kümmert sich um die Pferde der aus dem Krieg zurückkehrenden Truppen. Stallungen und Reithäuser sind übervoll, Diebe und Schieber treiben ihr Unwesen, auch Pferdediebe.

 

Auch sonst kam es zu Plünderungen. „Jeder Begriff von Mein und Dein bezüglich der massenhaft aus den besetzten Gebieten anrollenden Heeresgüter, die vielfach zunächst offen gelagert werden mussten, war verschwunden. Auch die Masse der Soldaten blieb von dieser moralischen Verwüstung nicht verschont“, berichten die Räte. Selbst Wachen beteiligen sich an Plünderungen. Um die Revolution zu sichern, versucht man sich auch mit politischer Bildung. „Viereinhalb Jahre Krieg und krasseste Militärdiktatur hatte die Volksmasse in unerhörtem Maße geistig versumpft“, stellt Emil Schuler vom Ludwigsburger Arbeiterund Soldatenrat fest. Um die Jahreswende 1918/1919 beginnt der Wahlkampf, es finden Wahlen zur Landes- und Nationalversammlung statt. Parteien treten erstmals seit Kriegsbeginn wieder gegeneinander an. In Ludwigsburg befürchten die Räte, „reaktionäre Kräfte“ könnten sich durchsetzen. Die SPD holt im Land jedoch die Mehrheit, kann aber nicht allein regieren. 

 

Wer war Ernst Reiner?

Das Leben des Mannes, der in den Revolutionsjahren  die Geschicke der  Stadt Ludwigsburg mitbestimmt hat,  ist kaum bekannt und in der Geschichtsschreibung  wenig beachtet worden. Ernst Reiner  (1889–1963) war als Soldat im Feldartillerie-  Regiment 29 während des Krieges an der  Westfront eingesetzt. Obwohl er nur Wachtmeister  war, war der Verwaltungsfachmann  – er war in Stuttgart und später im Schiedsgericht  für die Arbeiterversicherung tätig – in  Ludwigsburg in den Nachkriegsjahren mit  tonangebend. Er verhandelte mit Generälen,  Behörden und dem Oberbürgermeister. 

 

Unsere Zeitung hat Kontakt zu seinem Sohn  in Logroño (Spanien) aufgenommen. Wie Ernesto  Reiner der LKZ berichtet, ist sein Vater  von Staatspräsident Blos 1919 für seine Tätigkeit  geehrt worden. Sein Vater lebte einige  Jahre in Asperg. Er war verheiratet und hatte  vier Kinder. Er gründete eine Firma zur Herstellung  von Zeluloidwaren, die aber nicht gut  lief. 1926 wanderte er mit Familie nach Spanien  aus. Er versuchte es erneut mit einem Unternehmen,  das bis zu 60 Mitarbeiter beschäftigte.  Mit dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs  schickte er Frau und Kinder nach  Asperg zurück. Als er sie dort 1936 abholen  wollte, wird er von einem SA-Mann ins Gesicht  geschlagen. Er kam ins Schutzhaftlager  Welzheim, 1937 durfte er ausreisen. Zurück in  Spanien wird er als regierungsfeindlich angeklagt,  1940 aber entlastet. Er gründete ein Unternehmen,  baute in Logroño Mietshäuser  und handelte mit Spirituosen.  

 

Wer war Wilhelm Keil?

Wilhelm Keil (1870–1968) ist Ehrenbürger   von Ludwigsburg. Er war   ab 1900 für viele Jahre Abgeordneter der SPD im württembergischen Landtag   und im Reichstag (heute Bundestag). Er war   eine der demokratischen Leitfiguren in den   Umbrüchen nach dem Ersten Weltkrieg und wurde 1919 Präsident des ersten Parlaments in Württemberg. Eine Funktion, die er auch nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1952 für Baden-   Württemberg innehatte. 1961 wird er für seine Lebensleistung von Bundespräsident Theodor Heuss geehrt.