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„Ich habe gedacht: Ich will mehr lernen“

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Ob in der Schule oder eine neue Sprache: Lernen fällt Anas Baij (18), Ranim Yusef (15) und Rmeana Lahdo (19) leicht. Doch einfach hatten es die Jugendlichen aus Syrien nicht. Damit sie unterstützt werden, bekommen sie das Stipendium „Talent im Land“ (TiL). Im Interview sprechen sie über ihre Pläne für die Zukunft, die Herausforderungen in ihrer neuen Heimat und warum es schwerfällt, Nachrichten über Syrien anzuschauen.

Ludwigsburg. Zuerst einmal: Herzlichen Glückwunsch zum Stipendium. Wie haben Eure Mitschüler regiert, als sie erfahren haben, dass Ihr bei „Talent im Land“ mitmacht?

 

Rmeana: „Romi, krass!“ (lacht) Sie haben noch nie von einem Stipendium gehört, das für Leute ist, die Abi machen wollen. Sie waren total überrascht und haben gesagt: „Romi, du bist jetzt ein Talent“.

 

Anas: Die meisten kennen ja nur Bafög. Meine Mitschüler haben gefragt, was man da eigentlich bekommt, und ich habe es ihnen erklärt. Sie waren überrascht.

 

Ranim: Erst habe ich davon nur meiner besten Freundin erzählt. Alle anderen wussten nichts. Mittlerweile habe ich es auch einigen anderen erzählt.

 

Rmeana: Ich habe es meinen Freunden auch erst erzählt, nachdem wir das Zertifikat bekommen haben. Die Zusage hatten wir aber schon länger. Da hatte ich es nur meinem Lehrer und meinem Schulleiter erzählt. Die haben mir gratuliert.

 

Was habt Ihr bisher bei „Talent im Land“ gemacht?

 

Anas: Für die erste Veranstaltung waren wir in Göppingen, in der evangelische Akademie Bad Boll. Dort haben wir zwei Tage verbracht.

 

Ranim: Da haben wir uns kennengelernt. Alle der rund 50 Stipendiaten waren da. Es gibt aber auch Treffen mit ehemaligen Stipendiaten – die Regionalgruppen.

 

Rmeana: Das sind selbst organisierte Treffen für jede Region. Alle, die etwa aus Stuttgart oder Ludwigsburg kommen, unternehmen etwas zusammen.

 

Ranim: Ich war mit den Alumni beim Bowling. Es ist sehr gut, wenn man Leute aus anderen Jahrgängen kennenlernt. Man bekommt Beratung, Unterstützung oder Tipps von ihnen.

 

Anas: Die zweite Veranstaltung war im Haus der Wirtschaft in Stuttgart. Da kamen die Kultusministerin und Vertreter der Robert-Bosch-Stiftung und der Baden-Württemberg-Stiftung.

 

Ranim: Da haben wir unsere Urkunde bekommen.

 

Was steht noch an?

 

Rmeana: Wir besuchen bei „Talent im Land“ auch eine Uni.

 

Anas: Dort gehen wir mit den ehemaligen Stipendiaten hin, die bereits studieren.

 

Rmeana: Die TiL-Stipendiaten, die schon studieren, organisieren dort Treffen, so dass wir zusammen hingehen können. Wir erhalten dann eine E-Mail, dass wir uns anmelden können, falls uns dieser Bereich – zum Beispiel Medizin – interessiert. Das gibt es immer im Laufe des Jahres.

 

Anas: Es ist ein richtiges Netzwerk. Alle helfen sich. Auch wenn man eine Wohnung sucht, Nachhilfe oder Unterstützung für ein Referat braucht oder Hilfe benötigt, um eine Bewerbung zu schreiben, – sie helfen uns gerne. Es gibt auch die Sommerakademie. Dort bleiben wir eine Woche und haben Seminare zu politischen und wissenschaftlichen Themen.

 

Glaubt Ihr, dass Euch das Stipendium in Zukunft helfen wird?

 

Ranim: Ja, denn wenn man zum Beispiel eine neue Sprache lernen will, kann man einen Kurs belegen, der von „Talent im Land“ finanziert wird. Ich finde aber vor allem die Beratung von den ehemaligen Stipendiaten unheimlich wichtig. Wenn sie erzählen, was sie gemacht haben, bekommt man auch ein bisschen eine Ahnung, wie es weitergehen kann.

 

Wisst Ihr schon, was Ihr nach der Schule machen wollt?

 

Anas: Ich interessiere mich für den medizinischen Bereich. Deshalb möchte ich vielleicht Medizin studieren.

 

Warum?

 

Anas: Vielleicht, weil mein Vater Arzt ist. Ich war jedes Wochenende in seiner Praxis und habe zugeschaut, wie er die Leute behandelt hat. Das habe ich geliebt. Es ist ein sehr gutes Gefühl, wenn man Leuten helfen kann. Als ich mich bei „Talent im Land“ beworben habe, wollte ich eigentlich Medizin studieren, um beim Malteser Hilfsdienst zu arbeiten. Aber jetzt möchte ich zu Ärzte ohne Grenzen. Sie tun etwas Gutes. Sie fahren zu den ärmsten Leuten in Afrika, um ihnen zu helfen. Ich finde, ein Arzt muss allen Leuten helfen, egal welchen Hintergrund, welche Herkunft oder Religion sie haben.

 

Du hast auch bei der WHO und Unicef in Syrien gearbeitet. Was hast Du gemacht?

 

Anas: Es gibt alle zwei Monate in Syrien eine Kampagne zur Schutzimpfung für Kinder. Dort habe ich mich angemeldet und eine Woche lang Kinder geimpft.

 

Wie kam es dazu?

 

Anas: Mein Vater ist Abteilungsleiter in einem Krankenhaus. Ich habe von ihm gehört, dass es so etwas gibt, und habe gefragt, ob ich das machen darf. Er meinte, dass ich mich dort anmelden kann.

 

Rmeana, Ranim, wisst Ihr schon, was Ihr nach der Schule machen wollt?

 

Ranim: Ich möchte in den medizinischen Bereich gehen. Das liegt daran, weil meine Schwester mit einer Behinderung geboren wurde. Ich hatte immer dieses Gefühl, dass ich wissen will, was mit ihr los ist. Und man kann Leuten helfen, forschen und Neues entwickeln.

 

Rmeana: Ich habe an der Schule das Profil Gesundheit und Pflege gewählt. Wir haben acht Stunden Bio und lernen viel über den Menschen. Das gefällt mir unheimlich. Aber ich habe noch nichts Bestimmtes vor und will mich noch nicht festlegen. Ich mache meinen Weg erst einmal weiter. Wenn ich gute Noten im Abi habe, kann ich entscheiden, wohin ich gehen möchte.

 

Ihr habt sehr gute Noten. Wie schafft Ihr das in einer fremden Sprache?

 

Rmeana: Talent! (Alle lachen). Wir haben hier gute Noten und hatten sie auch in Syrien. Die Sprache war natürlich eine große Herausforderung für uns. Aber wenn man sich anstrengt, kann einen das nicht aufhalten. Erst einmal haben wir die Sprache gelernt.

 

Anas: Und tun es immer noch. Ich bin seit zwei Jahren hier, seit drei Monaten gehe ich hier zur Schule. Ich bin in allen Fächern viel besser als in Deutsch. Ich muss immer noch viel lernen.

 

Ranim: In Grammatik bin ich sehr gut. Nur Aufsätze schreiben kann ich nicht so gut.

 

Anas: Das ist generell unser Problem.

 

Wie habt Ihr Deutsch gelernt?

 

Rmeana: Ich hatte nicht einmal B 1-Niveau, als ich in die Realschule kam. Ich dachte, ich komme in die Klasse und werde die Sprache irgendwie lernen – einfach zuhören und mitmachen. Nach sechs Monaten habe ich kein einziges Wort gelernt, ich habe nur Englisch gesprochen. Dann wurde mir empfohlen, auf die Hauptschule zu wechseln, weil es dort eine Vorbereitungsklasse gibt. Wir hatten dort ein sehr niedriges Niveau. Ich habe mir gedacht: Ich will mehr lernen, das ist zu wenig für mich. Also habe ich Listen mit 600 deutschen Verben gelernt. Dann hat meine Lehrerin mir empfohlen, wieder auf die Realschule zu gehen. Dort habe ich meinen Abschluss gemacht. Ich hatte eine 1,7. Ich war die Beste in meiner Klasse und die Drittbeste in der Schule.

 

Darauf bist Du stolz, oder?

 

Rmeana: Ja. Ich habe mich sehr gefreut und das hat mich motiviert, weiterzumachen. Der Gedanke: Ich bin die Beste in der Klasse, ich muss die Beste bleiben. Dieser Ehrgeiz war einfach da.

 

Anas, Ranim, wie habt Ihr Deutsch gelernt?

 

Anas: Ich war auch in einer Vorbereitungsklasse – eine VKL –, aber dort waren sie sehr langsam. Dann habe ich meiner Lehrerin gesagt, dass ich mehr lernen will. Sie hat gesagt, dass es in zwei Wochen eine A 2-Prüfung gibt und dass ich versuchen soll, zu Hause zu lernen. Ich habe das gemacht und die Prüfung mit eins bestanden. Wieder zwei Wochen später gab es eine B 1-Prüfung, die ich auch geschafft habe. Die vergangenen drei, vier Monate habe ich für die B 2-Prüfung alleine gelernt und bestanden.

 

Ranim: Ich habe auch eine VKL besucht. Dort haben wir Grammatik geübt. Viele Leute waren aber Analphabeten und der Stoff musste oft wiederholt werden. Ich wollte etwas Neues lernen. Meine Lehrerin meinte, dass ich zur VKL 2 gehen sollte, weil man dort Texte liest. Das habe ich gemacht. Mein Deutsch war dann so gut, dass ich in die 8. Klasse kam. Dort war es sehr einfach, deshalb konnte ich eine Klasse überspringen.

 

Kanntest Du den Stoff schon?

 

Ranim: Ja, ich hatte den Stoff in Mathe und MNT – also Biologie, Chemie und Pysik – schon in Syrien. In anderen Fächern war der Stoff neu, aber sehr leicht. Ich musste nicht lange dafür lernen. Aber vor allem Mathe ist einfach.

 

Anas: Eigentlich ...

 

Rmeana:... bei uns allen! (Alle lachen). Wir sind alle Einser-Schüler in Mathe.

 

Anas: Bei uns läuft Mathe ins Blut. Ich denke, das liegt daran, weil die Fächer Mathe, Physik und Chemie in Syrien stark vertreten sind.

 

Rmeana: Deshalb ist Mathe für uns easy.

 

Rmeana, Du hast Deinen Mitschülern Nachhilfe in Mathe gegeben.

 

Rmaeana: Ja, in der Realschule habe ich einer Klassenkameradin geholfen. Sie hat vorgeschlagen, dass ich einmal in der Woche zu ihr komme. Eigentlich habe ich der ganzen Klasse geholfen. Vor der Mathearbeit sind alle zu mir gestürmt. Letztens habe ich einen Freund aus meiner alten Klasse getroffen und ihn gefragt, wie es mit Mathe läuft. Er meinte: „Du bist nicht mehr da. Es ist katastrophal.“

 

War es schwer, Euch hier einzuleben?

 

Rmeana: Ja. Die ersten zwei Jahre waren schwierig. Ich war sehr traurig und habe jede Nacht gedacht: Ich will zurück, ich halte es nicht mehr aus, es ist zuviel. Die ersten zwei Monate waren chillig, als ob wir im Urlaub wären. Aber dann hat es angefangen: Schule, ein Haus suchen, der Familie helfen und übersetzen. Ich stand unter Druck, hatte viel Stress. Aber langsam wurde es besser. Ich habe gute Noten bekommen und neue Freunde gefunden, das hat motiviert. Mittlerweile habe ich mich sehr gut eingelebt. Wenn man Freunde hat, raus geht und Spaß hat, wird es besser.

 

Ranim: Ich bin in den ersten zwei Monaten jeden Tag rausgegangen, habe etwas Neues gesehen. Aber dann denkt man irgendwann an die beste Freundin, die Cousins und alle anderen, die in Syrien sind. Ich dachte, dass ich neue Freunde finden muss. Ich wollte mit jemanden reden, aber das ist sehr schwierig. Du willst etwas sagen, aber du kannst es nicht, weil du die Sprache nicht sprichst. Dann habe ich Deutsch gelernt und Freunde gefunden. Wenn man Freunde hat, dann ist das Leben besser.

 

Anas: Ja, es wird einfacher mit der Zeit. Für mich ist es schwierig, da ich alleine wohne. Meine Eltern sind in Syrien und wollen nicht kommen. Mein Vater arbeitet immer noch dort. Als ich ihm von der deutschen Sprache erzählt habe, hat er gesagt: „Ich werde nie nach Deutschland kommen.“ (lacht). Er bräuchte das C 2-Niveau, um hier als Arzt arbeiten zu können. Für ältere Menschen ist es sehr schwierig, richtig Deutsch zu lernen. Wir sind jünger und auch für uns ist die deutsche Sprache schwer.

 

Vermisst Ihr Syrien?

 

Ranim: Ja.

 

Rmeana: Ich traue mich oft nicht, Fernsehen zu schauen. Manchmal sage ich: „Papa, mach das bitte aus, ich will das nicht sehen.“ Ich versuche, manche Beiträge im Fernsehen zu vermeiden, oder halte mir die Ohren zu. Ich will das schöne Bild von Syrien in Erinnerung behalten.

 

Anas: Ich sage immer, als ich meine Heimat verlassen habe, nahm ich alles mit außer meine Seele. Die ist dort geblieben.

 

Warum bist Du alleine hergekommen?

 

Anas: Vor rund zwei Jahren hat sich der Krieg in Syrien verschärft. Es war fast unmöglich, jeden Tag in die Schule zu gehen. Manchmal waren wir in der Schule und in der Nähe gab es einen Bombenangriff. Dann sagte die Schulleitung, dass wir diese Woche nicht mehr kommen sollen. Also konnte ich nicht jeden Tag in die Schule gehen. Ich hatte Angst, nicht die Bildung zu bekommen, die ich bekommen könnte. Ich habe mit meinen Eltern darüber gesprochen, ob ich nach Deutschland gehen soll.

 

Es ist sicher nicht leicht, so weit weg von Deiner Familie zu leben.

 

Anas: Ja, aber ich sage mir: Ich kann ein deutsches Abitur oder einen Hochschulabschluss machen. Vor dem Krieg habe ich schon gesagt, dass ich nach dem Abi oder dem Studium in den USA oder in Deutschland einen Master machen will. Manchmal habe ich das Gefühl, dass es zuviel für mich ist, aber ich motiviere mich und sage: Ich will im Leben etwas von Bedeutung erreichen, ich will kein Mensch sein, der einfach geboren wurde, lebt und stirbt.

 

Was war noch schwierig?

 

Rmeana: Der Familie zu helfen. Man muss Formulare ausfüllen, Busfahrkarten kaufen, hat Arzttermine. Ich bin mit meiner Familie etwa zum Zahnarzt gegangen und habe versucht zu übersetzen.

 

Ranim: Für meine Mutter ist es schwer, Deutsch zu lernen, deshalb musste ich zu Terminen mitkommen. Das war sehr schwierig, weil ich manchmal in der Schule gefehlt habe.

 

Anas: Ich habe mehr als sieben Monate gesucht, bis ich ein WG-Zimmer gefunden habe. Jetzt suche ich eine Wohnung für mich allein in Ludwigsburg. Ich brauche meine Ruhe, um konzentriert zu lernen. Und die Bürokratie hasse ich sehr. Für alles muss man einen Antrag ausfüllen. (lacht)