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Reaktorkatastrophe
Sie denken jeden Tag an Tschernobyl

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Bild oben: Die Absperrung an der Todeszone, die sich 30 Kilometer rund um den Reaktor erstreckt. Auch wenn inzwischen Touristen den Unort aufsuchen, bleibt er doch für tausende Jahre gefährlich. Im Umfeld außerhalb der Zone leben noch mehr als eine Million Menschen. Bild links: Der Mediziner Sergej Koval aus Gomel in Ludwigsburg. Fotos: dpa/Holm Wolschendorf
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Bild oben: Die Absperrung an der Todeszone, die sich 30 Kilometer rund um den Reaktor erstreckt. Auch wenn inzwischen Touristen den Unort aufsuchen, bleibt er doch für tausende Jahre gefährlich. Im Umfeld außerhalb der Zone leben noch mehr als eine Million Menschen. Bild links: Der Mediziner Sergej Koval aus Gomel in Ludwigsburg. Fotos: dpa/Holm Wolschendorf
Feier zum Jahrestag in der Paul-Gerhardt-Kirche – Arzt Sergej Koval berichtet aus Gomel – Kinder leiden an Schilddrüsenkrebs

Ludwigsburg. Er muss sofort los. Einsatz beim Kraftwerk. Es ist Nacht. Das Feuer ist vom Haus aus zu sehen. Unruhe. Am Tag nach dem 26. April 1986 wartet die Frau des Feuerwehrmanns vergebens auf ihn. Sie sucht ihn, über Umwege erfährt sie, dass er in einem Krankenhaus ist. Die Miliz verwehrt ihr zunächst den Zutritt, als sie ihn dann doch besuchen darf, sieht sie jemand, den sie kaum mehr erkennt. Sein Gesicht, sein Körper war aufgequollen, die Haut war verfärbt, löste sich. Umarmen darf sie ihn nicht. Wegen der extrem hohen Verstrahlung. Tage später stirbt er.

Den Bericht, den der frühere Kornwestheimer Pfarrer Christoph Rau bei der Gedenkfeier zum 30. Jahrestag von Tschernobyl in der Paul-Gerhardt-Kirche in der Weststadt vorträgt, zeigt, mit welcher Wucht sich die Reaktorkatastrophe bei Einsatzkräften und sogenannten Liquidatoren bemerkbar gemacht hat. Später, fast zu spät, wird die gesamte 50 000-Einwohner-Stadt Prypiat umgesiedelt. Sie liegt wie viele andere Dörfer und Städte in der radioaktiv verseuchten Zone, die bis heute zur Todeszone gehört. Es ist eine Geisterstadt, die innerhalb weniger Stunden geräumt werden musste.

Die Folgen des Reaktorunglücks bekommen auch die Menschen zu spüren, die in den leichter verstrahlten Gebieten am Rande der Zone wohnen. Der Mediziner Sergey Koval, Leiter einer Kinderintensivstation in Gomel (Weißrussland), 150 Kilometer von Tschernobyl (Ukraine) entfernt, berichtet von den gesundheitlichen Folgen. Denn die radioaktive Wolke, die sich später über Europa ausbreitete, hat vor allem diese Region stark getroffen.

Auffällig seien die erhöhten Schilddrüsenkrebserkrankungen insbesondere auch bei Kindern. „Das ist wirklich ein Problem“, so Koval. Auch das Brustkrebs-Risiko sei auffallend hoch. „Kinder neigen stark zu Infektionen und zu Immunschwäche“, berichtet er. Eine Folge der erhöhten Strahlung? Die Erklärung dafür liefert der Notfallmediziner Reinhard Jaki, der sich wie Pfarrer Rau für den Verein „Freunde der Kinder von Tschernobyl“ engagiert. „Wenn man über Friedhöfe dort geht, stellt man mit Erschrecken fest, wie viele junge Menschen begraben sind“, erzählt er. Oft höre man, dass sie plötzlich krank geworden seien, so Jaki. Sie sterben an einfachen Infektionen, weil ihre Körper schwach sind, nicht genug Widerstandskraft haben. Jaki spricht vom „Tschernobyl-Virus“, der ein größeres Problem sei als die direkten Krebserkrankungen.

Verlässliche Zahlen zu den gesundheitlichen Auswirkungen und den Tschernobyl-Opfern gibt es nicht, wirklich ernsthafte Studien wurden nicht zugelassen oder behindert. Auf der Kinderintensivstation zeigen sich laut Chefarzt Koval, der vor 15 Jahren in Stuttgart hospitierte, keine Auffälligkeiten. Auch die Zahl der Fehlbildungen bei Neugeborenen sei vergleichbar mit der in Europa, sagte er. Allerdings fehlten Brutkästen und medizinische Geräte, um bei den ganz Kleinen ähnlich positive Ergebnisse erzielen zu können. Planungen laufen auch für eine neue Kinderklinik.

Der Verein der Freunde hilft mit Spenden, gefragt ist medizinische Hilfe für Krebsstationen und Kinderkliniken. Er unterstützt aber auch das Erholungszentrum Nadeshda bei Minsk, ein weißrussisch-deutsches Projekt. Dort können sich Kinder und Jugendliche, die in verstrahlten Gebieten wohnen, erholen. Vergangenes Jahr waren dort fast 4000 Kinder. Manche bekommen erstmals eine medizinische Diagnose. Jedes vierte Kind, so eine Untersuchung, hat Atemwegserkrankungen, fast 14 Prozent haben Stoffwechsel- und Ernährungsprobleme, mehr als jedes zehnte hat Anomalien oder Deformationen.

In etwa hundert Kilometer Entfernung will die Regierung wieder ein Atomkraftwerk bauen. In Nadeshda möchten die Verantwortlichen andere Wege gehen. Es ist geplant, ein Solarkraftwerk aufzubauen – mit Hilfe von Spenden.

„Vor kurzem sind wir durch das Sperrgebiet hindurch zu einem kleinen Dorf gefahren“, berichtet ein Besucher der Veranstaltung von einer Reise in die Gegend von Tschernobyl. Die Schule in dem Dorf war geschlossen, viele sind weggezogen. „Wir haben die Menschen gefragt, was der 30. Jahrestag von Tschernobyl für sie bedeutet. Nicht viel, haben sie geantwortet, weil sie jeden Tag daran denken.“ Größte Angst haben sie derzeit vor Waldbränden, weil durch sie wieder Strahlung freigesetzt würde. Waldarbeiter entfernen deshalb die vertrockneten Bäume, die nach dem Reaktorunglück eingegangen sind.

Info: Weitere Informationen zu den „Freunden der Kinder von Tschernobyl Württemberg e.V.“ im Internet unter tschernobyl-kinder-stuttgart.de.