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Missbrauch
Box-Skandal mit schlimmen Folgen

Trainer Achim Böhme (links) mit seinem Schützling Xhek Paskali im Jahr 2011 in der Boxhalle des MBC Ludwigsburg. Foto: Baumann
Trainer Achim Böhme (links) mit seinem Schützling Xhek Paskali im Jahr 2011 in der Boxhalle des MBC Ludwigsburg. Foto: Baumann
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Es ist ruhig geworden um Achim Böhme. Seit der renommierte Boxtrainer vor einigen Monaten nach über 20 Jahren das Amt des 1. Vorsitzenden beim MBC Ludwigsburg abgegeben hat, tritt der 51-Jährige deutlich kürzer. Seit Ende voriger Woche aber erschüttert ein Missbrauchsskandal die Faustkämpferszene im Land, in dessen Strudel sich unvermittelt auch Achim Böhme und seine Ehefrau Fotini hereingezogen fühlen.

Ludwigsburg. Nicht nur die Coronapandemie, nun auch die Anschuldigungen junger Boxerinnen gegen drei Trainer aus Baden-Württemberg, denen sexuelle Übergriffe vorgeworfen werden, machen dem Box-Verband Baden-Württemberg (BVBW) und dem Ehepaar Böhme aus Ludwigsburg schwer zu schaffen.

Mit nachdenklicher Miene schließt Achim Böhme das Tor zur Trainingshalle des MBC Ludwigsburg in der Kronenstraße auf. Beim Gespräch im Stehen, auf Mindestabstand, direkt unterhalb des erhöhten Box-Rings, ist zu spüren, wie heftig ihn die zurückliegenden Tage aufgewühlt haben.

Insbesondere Passagen des Artikels „Massive Drohungen“ im jüngsten Spiegel (Nr. 47 / 14. November 2020) haben den Boxtrainer des MBC und seine Frau, die beim BVBW seit 2018 das Amt der Präventionsbeauftragten gegen sexualisierte Gewalt bekleidet, hart getroffen.

„Wir haben uns nichts zuschulden kommen lassen“, stellt Böhme für sich und seine Frau Fotini klar. Die Andeutungen im Spiegel-Artikel, der BVBW und damit auch Fotini Böhme (48) seien ihrer Verantwortung nicht in vollem Umfang gerecht geworden, sind aus Sicht der Ludwigsburgerin völlig deplatziert. Auch die in diesem Zusammenhang zwischen den Zeilen anklingenden Vermutungen, der Verband wolle Vorfälle vertuschen, weist sie aufs Schärfste zurück.

Der BVBW erklärt dazu auf seiner Homepage: „Wir haben die Vorwürfe von Anfang ernst genommen. Entsprechend schnell haben wir auch gehandelt.“ Im Anschluss wird die Chronologie der Geschehnisse aus Sicht des BVBW und von Fotini Böhme wie folgt aufgelistet:

Am 17. Oktober habe Fotini Böhme die Vorwürfe der Sportlerinnen aufgenommen und den Verband informiert.

Am 18. Oktober beurlaubte daraufhin das BVBW-Präsidium die beschuldigte Person mit sofortiger Wirkung.

Am 19. Oktober habe die Vertrauensperson Böhme, von Beruf medizinisch-technische Fachangestellte, Gespräche mit mutmaßlichen Opfern sexualisierter Gewalt und mit der Psychologin am Olympiastützpunkt Heidelberg (OSP) geführt. Allen betroffenen Boxerinnen sei dieumgehende Anzeige bei der Polizei empfohlen worden. Vorwürfe gegen weitere Personen hätten dazu geführt, dass der BVBW die sofortige Beurlaubung einer weiteren Person veranlasste.

Am 22. Oktober, „zum frühestmöglich anberaumten Termin“, wie es heißt, habe Fotini Böhme dann Anzeige bei der Polizei in Stuttgart erstattet.

Zu dem schwebenden Verfahren wolle sich Fotini Böhme persönlich nicht äußern, teilt ihr Ehemann mit. Mit eindringlichen Worten bekräftigt er im MBC-Gym, dass seine Frau Wert auf die Feststellung lege, ihren durch das Amt auferlegten Verpflichtungen ernsthaft und verantwortungsbewusst nachgekommen zu sein. Die bestehenden privaten Verbindungen zu den Beschuldigten, wie in dem Artikel angedeutet, hätten für sie zu keinem Zeitpunkt irgendeine Rolle gespielt.

Zum Thema „Sexualisierte Gewalt“ hatte Fotini Böhme an der Seite ihres Mannes 2018 einen Vortrag an der Trainer-Akademie in Köln besucht. Achim Böhme hatte dort in den Jahren 2016 bis 2019 das Studium zum Diplomtrainer des DOSB Boxen absolviert. In dem Seminar wurde beiden die Vielschichtigkeit dieses Problemfeldes mit erschreckenden Beispielen vor Augen geführt.

„Wir befinden uns in einer Situation, in der alle Beteiligten, auch der Boxsport, nur verlieren können beziehungsweise schon sehr viel verloren haben“, fasst Böhme mit traurigem Blick zusammen und fügt an die Adresse von Vereinen und Verantwortlichen hinzu: „Diese Situation stellt unser aller Versagen dar, weil es uns nicht gelungen ist, die eine wie die andere Seite zu schützen. Zu richten obliegt der Judikative.“

Der 51-jährige MBC-Trainer musste in den vergangenen Jahren einige Tiefschläge verkraften. 2016 raubten korrupte Punktrichter mit Fehlurteilen bei Qualifikationskämpfen in Samsun (Türkei) und Caracas (Venezuela) seinem Schützling Xhek Paskali die Teilnahme an den Olympischen Spielen 2016 in Rio. 2018 erlitt Böhme einen Schlaganfall, ist mittlerweile aber wieder völlig hergestellt. 2019 musste er sich ein künstliches Hüftgelenk einsetzen lassen – Spätfolgen seiner aktiven Laufbahn als Kickboxer.

Die Arbeit in der Talentschmiede in der Kronenstraße stellt für ihn Lebenselixier dar. Mit seiner Erfahrung bringt Böhme die jungen Leute schnell voran. In diesem Jahr qualifizierten sich acht MBC-Nachwuchsboxer für deutsche Meisterschaften, und zwar Athanasios Exis, Koray Öcal, Dennis Graf (alle U17), Leonard Teticu, Fatjon Elezaj (beide U19), Malik Karadag, Drilon Rama und Norris Ukeh (alle U22). Doch alle Titelkämpfe fielen Corona zum Opfer.

Als wäre die Pandemie, die 2020 alles lahmlegt, nicht schon schlimm genug, breitet sich mit der Missbrauchsaffäre ein mächtiger Schatten über dem Boxsport im Land aus. Achim Böhme blutet das Herz.

Box-Gym in einer alten Meisterschmiede

Vor über 25 Jahren wurde im Dezember 1994 das Muaythai Boxing Council (MBC) Ludwigsburg gegründet. In einer ehemaligen Schlosserei in der Kronenstraße richtete sich der Verein sein Trainings-Gym ein. Trainer Achim Böhme, lange Jahre auch Vorsitzender, führte zahlreiche junge Boxerinnen und Boxer zu Teilnahme und Medaillen auf regionaler, deutscher, Europa- und Weltebene.

Xhek Paskali begleitete er bis zum Gewinn des deutschen Meistertitels im Halbschwergewicht, zu EM- und WM-Teilnahme sowie zum Einstieg ins Profilager. Der MBC-Halbfedergewichtler Christos Cherakis eroberte sechs deutsche Meistertitel und boxte bei der EM und WM. Lucian Kühne holte die DM-Krone im Schwergewicht der U22-Altersklasse und schnupperte EM-Flair. Im U22-Mittelgewicht stand Malik Karadag bei der DM ganz oben auf dem Treppchen.

Nomin Deutsch schaffte unter den Fittichen des Coachs zwei deutsche Titel mit der Auszeichnung „Beste Technikerin“ und die Qualifikation für die WM 2016, wo sie bei den Damen in der 57-kg-Klasse den zehnten Platz belegte. Seinen Lebensunterhalt verdient Böhme durch die hauptamtliche Trainertätigkeit beim MBC und durch seine Selbstständigkeit im Bereich Rehatechnik. Der 51-Jährige hat zwei Söhne, Jannis (19) und Nick (24). (ewa)

3 Fragen an: Özlem Sahin

Box-Weltmeisterin aus Ludwigsburg

Haben Sie in Ihrer Karriere als Boxerin je persönliche Erfahrung mit sexuellen Übergriffen irgendeiner Art gemacht ?

Nein, niemals. Aber leider sind mir einige Vorfälle von sexueller Gewalt gegenüber Sportlerinnen bekannt. Das gibt es und das ist Fakt.

Wie wichtig ist aus Ihrer Sicht die Position eines „Präventionsbeauftragten gegen sexualisierte Gewalt“?

Diese Position ist sehr wichtig, allerdings sollte die Vertrauensperson einige Qualitäten mit sich bringen. So sollte sie Amateur oder Berufssportlerin gewesen sein oder aktuell noch sein. Dazu vertrauenswürdig, empathisch und sie sollte den Boxerinnen unterstützend zur Seite stehen. Wichtig ist, dass die Unabhängigkeit der Beauftragten gewährleistet ist. Sie sollte keinem Verband und keinem Verein angehören. Zudem sollte sie ein gewisses Alter und Reife mitbringen.

Was halten Sie von der Praxis des Verbandes, Vertrauensbeauftragte zu benennen?

Das System der Ernennung ist meiner Meinung nach falsch. Sportlerinnen sollten Vorschläge für diese Position machen und die Beauftragte wählen. Darüber hinaus sollte sich die neue Beauftragte bei allen Boxerinnen am Anfang ihrer Tätigkeit vorstellen. Die Beauftragte soll präventiv arbeiten und nicht nur, wenn was passiert. Die Mädels sollten über Ihre Rechte aufgeklärt werden, etwa: Ihr müsst euch bei der Waage nicht nackt vor eurem Trainer ausziehen. (ast)