1. Startseite
Logo

Das schlimme Leid der Heimkinder

In Kornwestheim gibt es eine Ausstellung über die Heimerziehung von 1949 bis 1975. Fotos: Andreas Becker
In Kornwestheim gibt es eine Ausstellung über die Heimerziehung von 1949 bis 1975. Foto: Andreas Becker
In Kornwestheim gibt es eine Ausstellung über die Heimerziehung von 1949 bis 1975. Fotos: Andreas Becker
In Kornwestheim gibt es eine Ausstellung über die Heimerziehung von 1949 bis 1975. Foto: Andreas Becker
In Kornwestheim gibt es eine Ausstellung über die Heimerziehung von 1949 bis 1975. Fotos: Andreas Becker
In Kornwestheim gibt es eine Ausstellung über die Heimerziehung von 1949 bis 1975. Foto: Andreas Becker
Die Geschichte der Heimerziehung gehört zu den dunklen Kapiteln der deutschen Nachkriegsgeschichte. Eine Wanderausstellung des Landesarchivs macht dazu jetzt Station im Kornwestheimer Grundbuchzentralarchiv. Sie lässt das Blut in den Adern gefrieren.

Kornwestheim. Über 500 Heimerziehungsanstalten gab es in Baden-Württemberg, bundesweit wurden hier 800000 Kinder und Jugendliche verwahrt. Von 1949 bis Mitte der 1970er wurden die Bewohner systematisch körperlich und psychisch misshandelt. Rund 1800 Einzelschicksale haben die Historikerinnen Nora Wohlfahrt und Nastasja Pilz zusammengetragen und ausgewertet.

Alleinerziehende Mutter und arbeitend, vielleicht sogar abends in der Gastronomie? Erwerbsloser Vater oder gar Ausländer? Scheidungskind oder Halbwaise? Mehr als drei Geschwister? Unangemessen gekleidet und laute Musik hörend? Jedes dieser Kriterien konnte Grund für die Überweisung eines Kindes in eine Heimerziehungsanstalt sein. Sie erfolgte nach Prüfung durch die Jugendhilfe, die meist auf Hinweise aktiv wurde. „Aus dieser Mühle dann wieder herauszukommen, war extrem schwer“, sagt Wohlfahrt. Die meisten dieser Aufenthalte im Heim endeten meistens erst mit der Volljährigkeit mit gebrochenen, oft psychisch kranken Menschen, denen das Selbstvertrauen konsequent aberzogen wurde. Das Schlimme: Den Kindern wurde eingeredet, dass sie an ihrer Misere selbst schuld waren. In der Öffentlichkeit wurde das auch entsprechend kommuniziert. Daraus resultierte die Drohung vieler Eltern: „Wenn du nicht brav bist, kommst du ins Heim.“

Sogenannte Erzieher trainierten an Medizinbällen, damit die kraftvolle Ohrfeige auch richtig saß. Kinder wurden gezwungen, ihr eigenes Erbrochenes zu essen, nachdem sie sich übergeben mussten. Ein 14 Jahre alter Jugendlicher verlor bei der Arbeit im Steinbruch ein Bein. Ihm wurde vorgeworfen, er heische mit dem Unfall absichtlich nach Mitleid. Fünf solche erschütternden Schicksale werden in Interviews gezeigt.

Straff organisierter Tagesablauf

Auf Fotos ist der Heimalltag dokumentiert. Der Tagesablauf war straff organisiert, Spielen spielte dabei allenfalls eine Nebenrolle. Wer aus der Reihe tanzte oder aufmuckte, wurde bestraft. Die Blicke der Kinder auf den Fotos sind freudlos ohne Lächeln. Von kindlicher Unbekümmertheit nicht die Spur.

Schläge waren selbstverständlich, Liebesentzug und Einzelarrest auch. Erziehung zur Härte erfolgte mit der Brechstange nach wilhelminischem Vorbild: Zucht und Ordnung. Dazu kamen oft schwere körperliche Arbeit, sexuelle Ausbeutung, bedingungsloser Gehorsam, Demütigung, ausgelieferte Hilflosigkeit und Entwurzelung. Rückzugsorte gab es nicht. Drangvolle Enge herrschte in den Klassenzimmern. Zum Schlafen in Sälen gab es pro Kind nur drei Quadratmeter. Wagte ein Kind, sich zu beschweren oder seine Lebensumstände bei einem Krankenhausaufenthalt zu schildern, wurde ihm selten geglaubt. Sie waren in der Gesellschaft stigmatisiert, hatten weder Anwalt noch Lobby. „Ich will nicht verallgemeinern“, sagt Nora Wohlfahrt vom Projekt „Heimerziehung 1949 bis 1975“ des Landesarchivs. Aber die Häufung von Schilderungen für körperliche und seelische Gewalttaten seien eindeutig: „Das waren keine Einzelfälle von Sadisten, auch wenn es die zusätzlich noch gegeben hat.“ Während es für einige Kinder die Rettung aus desolaten Familienverhältnissen gewesen sein muss, war es für die Mehrheit die Hölle auf Erden. Selten gab es Lichtblicke wie ein Fest oder einen Kinobesuch. Ansonsten habe ein System aus Willkür, struktureller Überforderung des Personals und finanziell extrem knapper Ausstattung dominiert. Straftaten seitens der Heimleitung und der Erzieher wurden lange Zeit unter den Teppich gekehrt.

Anfragen von Betroffenen

Heute noch erreichen die beiden Wissenschaftlerinnen Anfragen von Betroffenen. „Wir übernehmen die Recherche in den Archiven“, versprechen Wohlfahrt und Pilz. Auch wenn viele Akten zehn bis 30 Jahre nach der Volljährigkeit Betroffener von Amts wegen vernichtet worden seien, gebe es immer noch die Möglichkeit, zum Beispiel nach Geschwistern oder den leiblichen Eltern zu forschen.

Info: Die Wanderausstellung „Verwahrlost und gefährdet“ – Heimerziehung in Baden-Württemberg 1949 bis 1975 ist noch bis zum 11. Dezember im Landeszentralgrundbucharchiv im Salamanderareal Bau 2, Stammheimer Straße 10, in Kornwestheim zu sehen. Kostenlose Führungen sind möglich. Anmeldung unter Telefon (07154) 17820500.