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Das Waisenkind von Ludwigsburg

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Sobald die Nacht an kalten Wintertagen früh herbeikriecht, liegt alles im Verborgenen. Die Angst vor dem Unsichtbaren kommt auf, zugleich lädt die Fantasie zum Gruseln ein. Der Blick auf die Welt verändert sich und wird magisch: Welche Geschichten verstecken sich im Dunkeln? Bei ihrer neuen Gruselführung durch Ludwigsburg im Frühjahr 2015 wird Märchenerzählerin Xenia Busam einen anderen Blick auf die Stadt zeigen. Wir stellen schon jetzt einer ihrer düsteren Geschichten vor.

Hier in Ludwigsbug gab es ein Zucht- & Waisenhaus in der Schorndorfer Straße Ecke Bärenwiese.Dorthin wurden nicht nur Kinder gebracht, deren Eltern gestorben waren, sondern auch Kinder, deren Mütter sie nicht versorgen konnten. Und so manches Kind starb dort an Hunger, Kälte oder Lieblosigkeit. Welches die häufigste Todesursache war, weiß kein Mensch zu sagen.


Nun wird berichtet, dass hier in Ludwigsburg einst eine junge Frau mit einem guten Mann glücklich verheiratet war. Es war spät im Herbst. Sie war guter Hoffnung und beide freuten sich auf den Tag der Niederkunft.


Doch manchmal planen es die Schicksalsfrauen nicht so, wie die Menschen es sich erwünschen. Für den Mann hatten sie den Faden recht kurz gesponnen. So starb er, noch ehe seine kleine Tochter das Licht der Welt erblickt hatte, am Fieber, das in der Stadt wütete. Seiner Witwe blieben nichts als die Kleider am Leib, denn der Mann hatte keinerlei Besitztümer sein eigen genannt.


Ach wie sollte die junge Mutter nun für das Kind sorgen? Voller Sorgen und in Gedanken versunken ging sie bei Einbruch der Dunkelheit quer über den Marktplatz, als die Wehen einsetzten. Sie erreichte nur mit Mühe das Haus, das sie in der kommenden Woche schon verlassen musste, da sie die Miete nicht mehr bezahlen konnte. Dort schenkte sie einem wunderschönen Töchterchen das Leben.


Doch die Freude war nicht von langer Dauer. Die Nachbarinnen kamen und sagten:
„Wie willst du dein Kind versorgen, wenn du dich doch bei einem Herren verdingen musst? Du wirst es ins Waisenhaus bringen müssen, auf dass dort für es gesorgt werden wird.“


Davon wollte die junge Mutter vorerst nichts hören, doch wie die Woche um war, da hatte sie erkannt, dass das Kind nicht bei ihr blieben konnte. Schweren Herzens brachte sie die Kleine zum Waisenhaus. Der Gang war ihr sehr schwer: Quer über den Marktplatz, weit hin bis zu jenem Haus, in dem Kinder ohne Eltern aufwuchsen. Es war bereits dunkel und der erste Schnee fiel in dicken Flocken vom Himmel und bedeckte den Boden mit einem weißen Teppich. Die Spuren der Frau waren noch lange deutlich zu erkennen, denn es gab nur wenige, die zu so später Stunde noch unterwegs waren.


Fünf Jahre gingen ins Land und so oft die Frau es vermochte, besuchte sie ihr Kind dort im Waisenhaus. Sie steckte den Frauen dort alles Geld zu, das von ihrem schmalen Lohn übrig blieb. Doch diese sorgten sich nicht gut um die ihnen anvertrauten Seelen. Das Kind bekam zerfetzte Kleider, schlechte Kost - und Liebe nur an den Tagen, wenn die Mutter kam.


Und so erfüllte sich auch das Schicksal des Kindes, dessen Faden von den Schicksalsfrauen sehr kurz gesponnen ward. Es starb im Winter in der Nacht, in der der erste Schnee in großen Flocken vom Himmel fiel. Die Mutter jedoch starb kurz darauf an gebrochenem Herzen.


Seit jenem Tage geistert sie des Nachts über den Marktplatz – immer, wenn der erste Schnee in großen Flocken vom Himmel fällt und einen weißen Teppich auf den Platz legt. Dann ruft sie nach ihrem Kinde: „Johanna, Johanna, meine Tochter!“


Wer sie in diesen Nächten sieht, kann ihre Fußspuren im Schnee erkennen. Und wer diese Spuren genau betrachtet, der sieht auch die kleinen Kinder-Fußspuren, die den großen dicht auf folgen. Ach, hätte sich die Frau nur einmal umgewandt, so hätte sie gesehen, dass ihr Kind sie nie verlassen hat.