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„Die Untätigkeit der Kanzlerin wird uns einholen“

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Ludwigsburg. Herr Karaahmetoglu, Sie sagen, Deutschland könne sich keine vier weiteren Jahre mit Angela Merkel leisten. Warum?

Macit Karaahmetoglu: Frau Merkel hat keine Visionen für Deutschland. Sie steht für kein Projekt wie etwa Helmut Kohl für Europa oder Gerhard Schröder für die Reform des Arbeitsmarktes. Ihr fehlt die strategische Voraussicht. Sie hat 2005 ein reformiertes Land übernommen und von den Arbeitsmarktreformen der Schröder-Regierung profitiert. Sie ruht sich darauf aus. Irgendwann ist diese Ernte aufgebraucht.

 

Was hätte Angela Merkel in der Flüchtlingskrise anders machen müssen?

Sie hätte den Flüchtlingsdeal mit der Türkei ein Jahr früher machen müssen. Dann hätte die Krise an Kraft verloren und Herr Erdogan hätte die Flüchtlinge nicht zur Erpressung nutzen können.

 

War es eine Bauchentscheidung der Kanzlerin, die Grenzen zu öffnen?

Sie schielt gerne auf Umfragewerte. Damals war die Stimmung eben so, dass sie wahrgenommen hat: Refugees welcome. Aber sie hat offensichtlich verkannt, dass es sehr schwierig für die Gesellschaft ist, wenn große Mengen von Menschen ohne planerische Weitsicht nach Deutschland strömen. Durchdacht war das mit Sicherheit nicht.

 

Der Druck war groß angesichts der auf dem Balkan unversorgten Menschen.

In diesem Augenblick mussten wir die Menschen aufnehmen, da stimme ich zu. Aber eine Politikerin, die das Land leitet, ist ja nicht dazu da, auf Augenblicke zu reagieren. Sie muss dafür sorgen, dass solche schwierigen Situationen erst gar nicht entstehen. Heute geht sie davon aus, die Krise sei überstanden, und glänzt mit Untätigkeit. Sie hätte auch in Europa mehr Druck machen müssen, was die Verteilung der Flüchtlinge anbelangt.

 

Das hätte Martin Schulz als EU-Parlamentspräsident auch machen können.

Wie? Das hat er ja damals schon gefordert und das Europäische Parlament hat das 2012 schon getan.

 

Fordern kann man viel.

Man kann als deutsche Regierungschefin sagen, die Gelder für die osteuropäischen Länder geben wir nicht frei, wenn wir hier nicht eine Einigung in der Flüchtlingsfrage finden. Das könnte Deutschland sogar alleine per Vetorecht durchsetzen. Es ist ein Irrtum zu glauben, Frau Merkel macht das schon. Wir sehen, dass sie nichts macht.

 

Was macht sie denn nicht?

Man kann doch nicht einfach sagen, dass wir nichts tun können, wenn Nordkorea und die USA mit den Atomsäbeln rasseln. Da muss man alles versuchen, etwa, indem man den Kontakt zu Trumps Beratern sucht. Auch bei der Digitalisierung macht sie nichts. Wir sind inzwischen abgeschlagen auf Platz 25 in der Welt. In der Dieselkrise fehlt es Frau Merkel ebenfalls an Durchsetzungskraft und einem klaren Plan. Und der EU-Beitritt der Türkei hätte die nächsten 20 Jahre ohnehin nicht zur Debatte gestanden. Aber Angela Merkel ging einer Stimmung in der Bevölkerung nach und brachte die privilegierte Partnerschaft ins Spiel und schränkte damit die Einflussmöglichkeiten auf Erdogan ganz stark ein. Heute sehen wir, wie falsch das war. Erdogan und auch Putin respektieren Leute, die Tacheles reden. Sie brauchen klare Ansagen und keine Politik der Beliebigkeit.

 

Angela Merkel ist seit zwölf Jahren Kanzlerin und ihre Chancen, dies zu bleiben, sehen ja nicht schlecht aus. Muss sie sich nicht bestätigt sehen?

Die derzeitige Stimmung gibt nicht die Realität wieder. Wir haben einen enormen Investitionsstau und in Italien baut sich eine neue Flüchtlingskrise auf. Wir haben Anlass zur Sorge mit dieser antriebslosen Kanzlerin. Sie handelt nach dem Motto: Wer schläft, sündigt nicht. Auf Dauer wird uns das aber einholen. Bei Angela Merkel weiß man heute nicht, was man übermorgen kriegt. Erst war sie gegen die Pkw-Maut, dann dafür. Erst war sie gegen die Homo-Ehe, dann machte sie das zur Gewissensentscheidung. Erst war der Atomausstieg undenkbar, dann wurde er mit einer großen Radikalität umgesetzt. Der Satz „Sie kennen mich“ sollte eher Misstrauen auslösen. Ihr Konzept ist Machterhalt. Das halte ich einer Demokratie für unwürdig.

 

Die SPD hat mitregiert, wollte auch keine Pkw-Maut, hat dann aber zugestimmt.

Die Kanzlerin dominiert mit ihrer Richtlinienkompetenz. Kompromisse in einer Koalition sind das eine, wenn aber eine Kanzlerin sich klar gegen etwas positioniert, sollte man auch von ihr verlangen können, dass sie dazu steht. Mindestlohn war das Projekt der SPD, die Mietpreisbremse auch. Klar greift sie nicht, wie wir das wollen, deshalb müssen wir nun auch nachjustieren. Wir haben viel durchgesetzt.

 

Die Ernte aber fährt die SPD nicht ein, die Euphorie um Martin Schulz ist verflogen.

Martin Schulz hat sich einfach Zeit genommen, sich detailliert vorzubereiten. Er ist kein Blender, sondern ein Mensch, der Wert darauf legt, dass das, was er vorlegt, auch hieb- und stichfest ist. Er ist in den Medien mit seinen Vorschlägen zur Rente, zur inneren Sicherheit und dem Steuersystem noch nicht so richtig durchgedrungen. Aber wir haben ja noch einige Wochen bis zur Wahl. Angela Merkel hat große Angst vor dem TV-Duell mit Martin Schulz und deshalb ein zweites Aufeinandertreffen abgelehnt. Daraus schließe ich, dass wir ein großes Potenzial haben, etwas zu bewegen. Wenn es uns gelingt, dass die Menschen die Unterschiede zwischen Schulz und Merkel sehen, dann wird Martin Schulz Kanzler.

 

Glauben Sie selbst dran?

Ich halte es für wahrscheinlich, weil 40 Prozent der Wähler noch unentschieden sind. Umfragewerte sind unberechenbar.