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Ein Ludwigsburger Kita-Leiter berichtet: Mitarbeiter an der Belastungsgrenze

Ralf Ratzmann ist Leiter des Kinder- und Familienzentrums auf der Hartenecker Höhe. Die Pandemie bringt für pädagogische Fachkräfte und Kita-Leitungen viele vorher ungeahnte Herausforderungen mit sich und ganz aktuell auch wieder die akute Gefahr, si
Ralf Ratzmann ist Leiter des Kinder- und Familienzentrums auf der Hartenecker Höhe. Die Pandemie bringt für pädagogische Fachkräfte und Kita-Leitungen viele vorher ungeahnte Herausforderungen mit sich und ganz aktuell auch wieder die akute Gefahr, sich mit dem Coronavirus anzustecken. Foto: Andreas Becker
Bundesweit läuft die von der Gewerkschaft Verdi initiierte Protestaktion „Kitas am Limit“, mit der auf die hohe Belastung für die Fachkräfte aufmerksam gemacht werden soll. Auch in den Ludwigsburger Kindertagesstätten haben zwei Jahre Pandemie ihre Spuren hinterlassen. Wie geht es Ralf Ratzmann und seinem Team im Kinder- und Familienzentrum Hartenecker Höhe?

Ludwigsburg. Corona hat den Alltag für die 115 Jungen und Mädchen im Kinder- und Familienzentrum auf der Hartenecker Höhe massiv verändert. Das offene Konzept, auf das bereits die Architektur des Gebäudes ausgelegt ist, gehörte mit Pandemiebeginn der Vergangenheit an. Die große Freiheit der Kinder, sich in auf der ganzen Fläche zu bewegen, sich auszuprobieren, Kontakte auch über die eigene Bezugsgruppe zu knüpfen, wurde mit Rücksicht auf den Infektionsschutz stark eingeschränkt. Für Ralf Ratzmann und das Team bedeutete dies erst einmal umräumen. Statt eines großen Bauzimmers entstanden drei kleine Bauecken. „Die Vielfalt der Bildungsmöglichkeiten sollte erhalten bleiben“, betont Kita-Leiter Ralf Ratzmann, auch wenn die Kinder nicht mehr nach Belieben die Räume wechseln durften. „Die Vielfalt der sozialen Interaktionen konnten wir in der neuen Struktur allerdings nicht abbilden“, so Ratzmann. „Bei der Bildung von Kohorten wurden auch Freundschaften auseinandergerissen“, erinnert er sich. Das sei bisweilen schmerzhaft gewesen, inzwischen sei aber viel Neues entstanden.

Der 35-jährige Ratzmann hat sich seit Pandemiebeginn durch unzählige Coronaverordnungen gelesen und immer wieder Hygienekonzepte geschrieben und angepasst. Manchmal war Kreativität gefragt, selbst wenn es um scheinbar banale Dinge wie den Toilettengang ging. Denn die Kinder verschiedener Kohorten durften sich dabei nicht durchmischen. „Da haben wir Bänder gespannt und Einbahnstraßen errichtet“, erinnert er sich an die Zeit, in der die Coronaverordnung besonders streng war.

Neue Rolle der Einrichtungsleitung bringt viele unangenehme Aufgaben mit sich

„Ich habe mich als Einrichtungsleitung plötzlich in einer ganz anderen Rolle wiedergefunden“, erinnert er sich. Und die bringt viele unangenehme Aufgaben mit sich. Das begann schon mit der Notbetreuung zu Beginn der Pandemie. „Da galt es abzuwägen, wer ein Härtefall ist und in die Notbetreuung kommen darf, und wer nicht.“ In der Elternschaft gab es immer wieder Fragen zu beantworten und auch Unzufriedenheit, die Ratzmann und sein Team aushalten mussten. Der Kommunikationsaufwand ist in den vergangenen zwei Jahren enorm gestiegen. Das bestätigt auch Rebecca Harscher, die als Teamleiterin für die 22 städtischen Kitas im Rathaus zuständig ist. „Ich habe noch nie so viele Elternbriefe geschrieben.“ Wer muss sich testen lassen? Wie sind die Quarantäneregeln, wenn ein Kind in der Kita infiziert ist? Welche Mitarbeiter müssen sich testen lassen? Wer muss noch ein Impfzertifikat vorlegen? Wie viele Tests müssen für diesen Monat noch bestellt werden? Wer darf mit wem spielen? Wie lässt sich der Dienstplan mit Blick auf die Kohortenbildung gestalten? Der organisatorische Aufwand und die Dokumentation sind durch Corona enorm gestiegen.

„Der Fokus hat sich verschoben: Es gab viel Verwaltung und wenig Pädagogik“, sagt Ralf Ratzmann über seine Arbeit. Sein Wunsch ist, endlich wieder mehr Raum für pädagogische Fragen zu haben. Denn es sei gerade so wichtig, dass gute Pädagogen da sind, um die Kinder in der Pandemie aufzufangen. „Für die Kinder ist die Kita der Raum, in dem soziale Beziehungen möglich sind“, so Ratzmann. Abstand halten, zu Hause bleiben – das wirke sich auch auf das Verhalten der Kleinen aus. „Größtmögliche Normalität“ sei deshalb seine Devise.

Die Eingewöhnung neuer Kinder dauert jetzt häufig länger

Auch Rebecca Harscher weiß um die Auswirkungen der Pandemie auf viele Kinder, berichtet von teilweise „aggressiverem Verhalten“. Manche Familien haben den Kitabesuch aufgrund hoher Infektionszahlen lange gemieden, es gebe viele Kinder, die sich dadurch noch lange schwergetan haben. Ralf Ratzmann ist aufgefallen, dass Eingewöhnungen neuer Kinder oft länger dauern. „Die Erfahrungen aus Krabbelgruppen fehlen.“

Dass die Eltern die Einrichtungen seit zwei Jahren nicht betreten durften, hinterlässt ebenfalls seine Spuren. „Die Familien verlieren das Vertrauen“, stellt Rebecca Harscher fest. Da ist wieder viel Kommunikation gefragt, um das aufzufangen.

Das Werben um Verständnis bei den Krisengeplagten gipfelte in diesem Monat in einem gemeinsamen Schreiben aller Träger von Kindertageseinrichtungen in Ludwigsburg, auf die sehr angespannte Personalsituation in vielen Einrichtungen wurde aufmerksam gemacht. Grund dafür sei eine „ungute Kombination“, denn es kommen gleich mehrere Dinge zusammen: Der allgemeine Fachkräftemangel trifft auf die in dieser Jahreszeit übliche Erkältungswelle und dazu hohe Corona-Infektionszahlen. Reduzierte Öffnungszeiten und temporäre Kita-Schließungen sind vielerorts die Folge. „Corona legt ganze Teams lahm“, bedauert Rebecca Harscher, die sich an so massive Personalausfälle in den vergangenen Jahren nicht erinnern kann. „Man weiß heute nicht, was morgen ist“, beschreibt sie die Situation in den Kitas. „Ich habe das Gefühl, dass alle sehr erschöpft sind.“

Viele Kinder und Fachkräfte kennen die Arbeit vor Corona gar nicht

Ralf Ratzmann und sein Team versuchen durchzuhalten und für die Kinder da zu sein, denn die Pädagogen wissen, wie wichtig ihre Arbeit für die Kinder und ihre Familien ist. Dabei ist es auch eine spannende Frage, wie die Zukunft aussieht. „Wie war es eigentlich früher, vor Corona? Daran können sich viele der Kinder gar nicht mehr erinnern“, sagt Ratzmann. Viele Fachkräfte sind in der Zwischenzeit neu in die Einrichtung gewechselt und kennen die frühere Arbeit im offenen Konzept überhaupt nicht.

Die Uhren einfach zurückdrehen, das wird nicht möglich sein, selbst wenn die Infektionszahlen wieder runtergehen, da sind sich Harscher und Ratzmann einig. Nicht nur dem Kinder- und Familienzentrum steht ein Entwicklungsprozess bevor, wie der neue Kita-Alltag irgendwann aussehen wird.

Doch wie geht es Kita-Leiter Ralf Ratzmann im Hier und Jetzt? Ist er am Limit – so, wie die Gewerkschaft Verdi warnt? „Das klingt sehr hart“, sagt Ratzmann bescheiden, ganz so weit wolle er nicht gehen. Aber sehr viel Ausdauer müsse er schon beweisen.