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Granatsplitter rettet ihm das Leben

Albrecht Brenner hat viel in seinem Leben erlebt. Foto: Ramona Theiss
Albrecht Brenner hat viel in seinem Leben erlebt. Foto: Ramona Theiss
Ein Granatsplitter im Kopf rettet Albrecht Brenner im Zweiten Weltkrieg das Leben. Doch er macht ihm auch das Leben schwer, denn eigentlich liegt seine Lebenserwartung nur bei 40 Jahren. Inzwischen ist der Vaihinger 99 Jahre alt und körperlich und geistig voll auf der Höhe.

Vaihingen. „Mir geht es gut, das Laufen macht mir Probleme und mir zittern die Hände, aber ich bin zufrieden“, sagt der 99-Jährige mit einem Lächeln. Denn es ist Jammern auf hohem Niveau: Im Haus braucht Albrecht Brenner nicht einmal einen Stock, nur wenn er rausgeht, nimmt er den Rollator mit. Auch im Garten schafft er noch, auch wenn ein Nachbar ihm beim Unkrautjäten hilft. Seine Frau Gauger geht ihm im Haushalt zur Hand. „Da habe ich einmaliges Glück“, denn seit seine Frau 1990 an Brustkrebs gestorben ist, putzt Monika Gauger auch für ihn. „Meine Frau wollte zu Hause sterben und Frau Gauger half schon bei der Pflege mit“, erzählt er. Seit 32 Jahren kümmert sich die Frau nun um ihn, koordiniert seine Arzttermine, fährt ihn hin und bringt jeden Tag das Essen. Wenn sie mal im Urlaub ist, gibt es eben Essen aus der Dose oder Nudeln mit Tomatensoße – das einzige Gericht, das er selbst kochen kann. Wenn man von der selbst gemachten Marmelade absieht.

Da er sein Lieblingshobby Malen nicht mehr ausüben kann, da die Hand zu sehr zittert, schreibt er inzwischen. Zwei seiner Enkel drängten ihn lange, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben. Vor elf Jahren hatte er das erste Buch fertig – alles auf dem Laptop selbst geschrieben und in Kapitel wie Schule und Wehrmacht unterteilt. Dieses Jahr hat er das Werk ergänzt und zudem noch mehr Fotos hinzugefügt. Die nun 600 Seiten sind jetzt fertig. „Da mache ich aber kein Buch mehr daraus, sondern nur noch einen Stick“, erzählt er mit einem knitzen Lächeln. Dazu brauche er aber Hilfe von der Enkelin.

Mutter ist wenige Monate nach Geburt gestorben

Überhaupt erzählen. Das kann er. Selbst die Schilderungen aus dem Krieg kann er mit den genauen Daten versehen und bis ins Detail schildern, was er alles erlebt hat. Er erzählt ausführlich, aber nie langweilig. Auch für die Schreiberin dieser Zeilen vergehen die zweieinhalb Stunden wie im Flug und es ist noch lange nicht alles erklärt, was ein so langes Leben ausmacht.

Dabei hatte er es schon als Kind nicht leicht. Geboren ist er am 15. Mai 1923 in Feuerbach, seine Mutter starb jedoch an einer Embolie im August. Erst mit 18 Jahren hat er Fotos von ihr gesehen, berichtet er mit Tränen in den Augen. Sein Vater heiratete nochmals, er bekam noch drei Schwestern, die liebste war ihm die jüngste und die sollte später auch eine große Rolle spielen: Seine Frau war die Freundin seiner großen Schwester, und als sie ihn zum ersten Mal sah, saß er gerade an der Nähmaschine und nähte Puppenkleider für die jüngste, die heute 90 Jahre alt ist. Manches habe ihm an seiner Stiefmutter nicht gefallen, aber „heute sage ich, sie wäre eine schlechte Mutter gewesen, wenn sie nicht erst nach ihren eigenen Kindern geschaut hätte“. Zu gerne wäre er aufs Gymnasium gegangen, aber sein Vater konnte das Schulgeld nicht bezahlen. Aus dem Traumberuf Förster wurde mit Volksschule nichts. Über einen Nachbarn bekam er eine Lehrstelle als Vermessungszeichner, was ihn in den Anfängen des Krieges rettete. „Der Beruf war gefragt und ich hatte ein eigenes Büro mit Telefon, Feuer und teilweise einem Fahrer.“ 1941 musste er doch zum Kommiss. Er kam zuerst nach Frankreich zur Infanterie. Bei der Rekrutenbesichtigung war von einer Ausbildung über zwölf Wochen die Rede, dabei wollten die jungen Männer doch in den Krieg. „Man wollte dabei sein, das war halt so“, zuckt Brenner mit den Schultern. Schließlich wurde er doch ausgesucht, wie gewollt zum Sanitätsdienst.

Ein paar Mal hat er Glück im Krieg

Am Pfingstmontag 1941 saß er dann im Zug nach Russland. „Man war zufrieden, dass man nun Soldat wird, aber man wusste schon, was dahinter steckt und dass es kein Schleckhafen ist.“ Zunächst war es jedoch ruhig, die Männer bauten sich einen Bunker, bastelten aus dünnen Baumstämmen ihre Matratzen, geschossen wurde wenig, es war ein defensiver Stellungskrieg. Seine Feuertaufe mit dem Maschinengewehr hatte er eines Morgens, nachdem sich die Russen am Tag zuvor betrunken hatten und angriffen. Im Februar 43 häuften sich die Gefechte, Albrecht Brenner hatte ein paar Mal Glück, „und ich war mir sicher, mir passiert nichts“.

Erst am Morgen des 25. Februar 1943 wusste er: „Heute erwischt es mich.“ Auch deshalb wollte er sich partout nicht neben den Unteroffizier aufs offene Feld legen, sondern lieber unter eine Birke. Dort schlief er nach mehreren durchkämpften Nächten erschöpft ein. Und plötzlich war es ihm, als ob er durch die Luft fliegen, sich überschlagen würde. Ein Russe hatte eine Granate in den Baum geschossen, wo sie explodierte. Die Splitter trafen ihn, auch am Kopf. Er kam erst wieder zu sich, als er verbunden wurde. Wie auch immer lief er mit seinen Kameraden noch zum Arzt, der ihn aber nicht behandelte. Es sei nichts mehr zu machen, habe er gesagt. Bei 20 Grad Kälte lag er verwundet im Schnee. Ein Kamerad zog ihn auf einer Art Schlitten zum nächsten Lazarett, wo er abends operiert wurde. Den ersten Splitter hat er aufbewahrt, es kamen noch weitere hinzu, insgesamt hatte er drei Operationen, 1948 bekam er zudem noch Tuberkulose. Bis Oktober 44 war er in verschiedenen Lazaretten, was ihm das Leben rettete. In seinem Zug waren 36 Leute, gerade einmal vier kamen aus Russland zurück.

All das erzählt er noch relativ ruhig, „das war halt so, es ist ein Teil vom Leben, wo man froh ist, es überstanden zu haben“, sagt er. Auch der Ukraine-Krieg belastet ihn wenig. „Das ist kein Krieg. Und er ist zu weit weg“, sagt er.

Dann kommen ihm doch zweimal die Tränen: Als er von einem Kameraden erzählt, dem das halbe Gesicht zerfetzt worden war. „Ich habe ihn von der Front weg begleitet, aber irgendwann konnte ich den Anblick nicht mehr ertragen und habe ihn an einen Kameraden übergeben“, erzählt er und die Tränen rollen ihm über die Wange. Der Mann hat aber überlebt.

Arzt rät Braut von Hochzeit ab

Und dann war da noch das Lazarett in Polen, wo er wegen seiner epileptischen Anfälle war. In der Nähe war das Internierungslager Radom. Vom Krankenhaus sahen die Patienten auf die Straße, auf der die Juden zum Bahnhof getrieben wurden. „Uns wurde erzählt, sie würden zur Seifenfabrik gebracht. Wir hatten an der Front nichts von alledem mitbekommen“, sagt er. Wer zu schwach zum Laufen war, wurde erschossen. Als er später mit seiner Frau auf dem KZ-Friedhof in Vaihingen war, entdeckte er viele Gedenktafeln mit dem Ort Radom. „Auf den Friedhof kann ich nicht mehr, so etwas vergisst man nicht.“ Und auch jetzt rollen die Tränen.

Nach seiner Entlassung im Oktober 1944 arbeitete er bei einem Geometer, für einen Job im Landesvermessungsamt hätte er in die Partei eintreten sollen. „Der Chef dort hat mich nie mehr gesehen.“ 1947 lernte er seine Frau kennen. Der Hausarzt warnte die junge Braut: „Überlegen Sie sich das gut, der wird nicht alt. Höchstens 40 Jahre.“ Seine Frau erzählte ihm das erst viel später, aber auch ihm selbst war die Zahl 40 Jahre häufig gesagt worden. Am 17. Mai wäre ihr 75. Hochzeitstag gewesen. Albrecht Brenner ging dann auf die Staatsbauschule, studierte, war anschließend staatlich geprüfter Vermessungstechniker und arbeitete als Ingenieur bei der Stadt Stuttgart. Die geringe Lebenserwartung war immer wieder Thema, trotzdem bekam das Paar einen Sohn, der vor fünf Jahren starb, und eine Tochter. „Man hat immer gehofft, aber ganz vergessen kann man es nie“, erzählt er heute. Auch eine eventuelle Heirat mit einer Stationsschwester, die er noch aus dem Lazarett gekannt hatte, scheiterte nach dem Tod seiner Frau an der Frage, wie lange er noch leben würde.

Jetzt ist er 99 Jahre alt und hat groß mit der Familie gefeiert. „Ich weiß ja nicht, ob ich 100 werde.“ Sonst habe er wenig Probleme, häufiger Kopfweh als andere, aber das sei zu ertragen, Gott sei Dank hätten die epileptischen Anfälle aufgehört. Geraucht habe er nicht, nur wenig Alkohol getrunken, keinen Kaffee, keinen Tee, vor allem wegen der Epilepsie. Was ihn betrübt, ist, dass er nicht mehr malen kann, stolz zeigt er seine Bilder – hauptsächlich Reiseerinnerungen, auch von Russland. Zehnmal war er in Russland, einmal auch in der Gegend bei Gargardin, wo er stationiert war. „Aber da gehe ich nicht mehr hin, da kommen zu viele Erinnerungen“, sagt er nochmals mit bebender Stimme.