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Herausgerissen aus den Abgründen der Historie

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Ein Glücksfall: Andreas Posthoff im Schlosskeller.Foto: Holm Wolschendorf
Die Premiere von „Vergessen – literarische Lethe“ bei den Marbacher Theaterfestspielen ist eine kraftvolle Meditation über das Menschsein

Ludwigsburg. Marbach. Rauchschwaden wabern durch die Luft, die arme menschliche Kreatur findet sich im Auge des Sturms wieder, mitten auf dem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs, statt daheim im geliebten Berlin unter dem Weihnachtsbaum. Das Entsetzen im Gesicht des patriotisch Verblendeten ist greifbar, während rundherum die Bomben fliegen. „Stille Nacht, heilige Nacht“, krakelt Kasimir Kranz (Andreas Posthoff), sein Gesicht im Strahl der Taschenlampe ist verzerrt wie im Todeswahn, während aus dem Hintergrund nervös und bedrohlich die Elektro-Beats dröhnen. Es ist die wohl stärkste Szene eines Theaterabends, der vor 60 Zuschauern bei den Marbacher Theaterfestspielen im Schlosskeller seine nicht ganz ausverkaufte Premiere – als eine von nur zwei Aufführungen in diesem Jahr – feiert. Andreas Posthoff ist für das Ein-Mann-Stück „Vergessen – literarische Lethe“, das Tobias Frühauf geschrieben und Philipp Wolpert inszeniert hat, ein absoluter Glücksfall: authentisch, unbequem, pendelnd zwischen freundlichem Erzählonkel und wildem Dämon.

 

Etwas verzottelt kommt Kasimir Kranz daher, mit locker sitzendem Anzug, strähnigen Haaren und Backenbart. Auf der Bühne braucht es nicht mehr als einen Koffer, einen Schreibtisch, einen umgedrehten Stuhl und ein Steckenpferd, dem er sanft über den Kopf streichelt. Viele Seiten Papier liegen wild herum. Der fiktive Verleger dient als Vehikel, um entlang seiner Biografie eine Zeitreise durch die frühe Moderne mit all ihren avantgardistischen Strömungen zu machen. Ein Parforce-Ritt durch die Jahre 1910 bis 1933, ein Kaleidoskop der historischen Schlaglichter – als eine kraftvolle Meditation über das Menschsein an sich. „Weltende“, brüllt er ins Megafon, da ist die Verrohung der Menschheit vor den Kriegsjahren bereits in vollem Gange. Kranz taucht ein in die Untiefen des Expressionismus, er lässt einen Zuschauer dadaistsche Sätze aus Schnipseln sortieren und vorlesen. „Frauen, Schnaps, ein Leben war das“, beschreibt der Verleger das Berlin der wilden Zwanziger. „Aber abends war alles anders, als morgens geglaubt.“ Erste Schatten ziehen auf. Die neue Sachlichkeit hält Einzug, der Kranz nicht viel abgewinnen kann. Aber auch politisch wird es nun eng. „Gott hat uns verlassen“, konstatiert er nach der Machtergreifung Hitlers 1933 und hält sich die Pistole an den Kopf. „Warum??“

 

Naturgemäß kann sich das Stück nicht ganz freimachen vom Habitus des Schulstücks, das es in seiner Grundkonzeption ja nunmal ist. Zu geplättet sind die Zuschauer auch, um im Anschluss in der offenen Fragerunde noch sonderlich viel loszuwerden. Sei’s drum: Mit einem Charakterdarsteller wie Andreas Posthoff ist ein solcher Abend zwangsläufig ein Volltreffer.