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Immer den Ohren nach

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Übung macht den Meister. Kai Fischer vom SV Kornwestheim setzt zum Schuss an. Fotos: Baumann

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Elegant: Der Kapitän der Blindenfußballer des MTV Stuttgart, Mulgheta Russom (links), spielt den Kornwestheimer Zdenek Polizoakis aus.
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Langsam herantasten: Marvin Porubek (rechts) versucht, seinem SVK-Teamkollegen Nico Schürmann den Ball abzunehmen.
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Gianluca Calaciura übt sich im Dribbling – und hat sichtlich Spaß dabei.
Der SV Kornwestheim wagt sich auf fremdes Terrain: Der Fußball-Bezirksligist stattet dem deutschen Meister im Blindenfußball einen Besuch ab – und wird beim MTV Stuttgart ziemlich ins Staunen versetzt.

Stuttgart. Gelassen klemmt Mulgheta Russom den Fußball mit Rasseln im Inneren zwischen seine Füße, springt kurz hoch und lässt das Leder über seinen eigenen Rücken hinweg über Zdenek Polizoakis fliegen. Während Polizoakis sichtlich verwirrt versucht, sich auf dem kleinen Fußballfeld des MTV Stuttgart zu orientieren, hat Russom den Ball schon wieder am Fuß und setzt zum Schuss an. Ein unfaires Duell, könnte man meinen, schließlich hat Polizoakis eine Augenbinde auf, Russom dagegen nicht. Doch der 40 Jahre alte Russom ist blind – schon seit 20 Jahren.

 

Für ein Training haben die Blindenfußballer des MTV Stuttgart mit Kapitän Russom die Fußballer des SV Kornwestheim um Polizoakis bei sich aufgenommen. Welchen Eindruck die MTV-ler beim Bezirksliga-Spitzenreiter hinterlassen haben, zeigte sich schon kurz darauf beim Blick auf die sozialen Netzwerke. Etliche Fotos wurden dort von den SVK-Spielern geteilt. Der Tenor durchgehend: Respekt an das, was die Stuttgarter leisten können. „Es ist richtig beeindruckend, wie die mit dem Ball umgehen und was deren Körper ohne Augenlicht schaffen“, fasst es Kornwestheims Trainer Sascha Becker zusammen. Für sein Team sei es eine super Einheit gewesen, „man muss eben viel kommunizieren“, bemerkt Becker.

 

Auch sein Trainerkollege Giuseppe Calaciura, Coach der Blindenmannschaft des MTV und Vater des SVK-Verteidigers Gianluca Calaciura, zeigt sich begeistert von der Zusammenarbeit an diesem Abend – trotz anfänglicher Bedenken ob der Startschwierigkeiten des SVK. „Aber dann sind die Spieler warm geworden“, so Calaciura. Seit 2016 trainiert er die Blindenfußballer des MTV. Zuvor war er unter anderem Trainer der Waiblinger A-Junioren. Nachdem der Athletiktrainer des MTV Calaciura als neuen Coach empfahl, rief Russom bei ihm an. „Erst habe ich geglaubt, der meint das nicht ernst, aber dann habe ich es mir angeschaut, die überragenden Sportler gesehen und bin hier geblieben“, blickt Calaciura zurück.

 

Es ist der Anfang einer Erfolgsgeschichte: Stolz zeigt Calaciura nach dem Training mit dem SVK die silberne Schale des DFB in einer Vitrine im Stadion am Kräherwald. Im Juli dieses Jahres ist der MTV deutscher Meister geworden. Derzeit arbeiten die Stuttgarter schon am Projekt Titelverteidigung und nehmen an Turnieren in ganz Europa teil – zuletzt in Frankreich. „Wenn man mal an der Spitze war, will man da auch nicht mehr weg“, gibt Nationalspieler Alexander Fangmann die Marschroute für die Zukunft vor.

 

Seit er acht ist, ist Fangmann blind. Eine Netzhautablösung hat ihm das Augenlicht geraubt. „Bis dahin war ich fußballbegeistert wie viele andere auch“, sagt er heute. Es ist auch jene Begeisterung, die ihn nicht davon abhält, am Ball zu bleiben. „Danach habe ich mit sehenden Freunden gebolzt“, erzählt er und fügt dann mit einem Grinsen an: „Das hat erstaunlich gut geklappt.“ Mit einem mit Glocken versehenen Gummiball haben er und seine Kumpel damals improvisiert – und sind der heutigen Form des Blindenfußballs sehr nahe gekommen: Auf einem Kleinfeld wird Blindenfußball im Modus vier gegen vier gespielt. Dazu kommt ein Torhüter pro Mannschaft, der als Einziger auf dem Feld sehen kann. In dem Ball befinden sich Rasseln, hinter den Toren stehen Guides, die den Spielern bei der Orientierung helfen.

 

Zudem – das hatte SVK-Coach Becker angemerkt, während seine Spieler es im Laufe der Einheit am eigenen Leib erfahren – ist Kommunikation das A und O beim Blindenfußball. Jeder Spieler muss mit bestimmten Kommandos auf sich aufmerksam machen. Macht sich ein Gegenspieler innerhalb einer Entfernung von drei Metern zum ballführenden Spieler nicht mit dem Wort „Voy“ (spanisch für „ich komme“) bemerkbar, zählt das als Foul.

 

Bis sich die SVK-ler daran gewöhnt haben, mit nur vier von fünf Sinnen auskommen zu müssen, vergeht auch im Training mit dem MTV einige Zeit. „Für die Jungs ist es immer extrem schwer, die stehen natürlich viel rum“, weiß Fangmann. Schon 08 Bissingen, der FV Löchgau und Jugendteams des VfB Stuttgart waren bei Fangmann und Co. zu Gast. „Das machen wir gerne und sind froh, wenn unser Sport so bekannter wird“, sagt Calaciura dazu. Der kann sich in den kurzen Spielen zum Abschluss der Einheit mehrfach das Lachen nicht verkneifen, wenn er sieht, wie der eine oder andere Kornwestheimer mit schwarz-pinken Snoopy-Augenklappen hilflos über den Platz schleicht. Andere kommen mit den verbundenen Augen jedoch besser zurecht. „Die ein, zwei Spieler, die sich getraut haben, gehen bestimmt auch im Spiel voran“, mutmaßt Fangmann – und spielt auf Kapitän Marco Reichert an, der nach langem Solo ein von seinen Mitspielern lautstark gefeiertes Tor erzielt – es sollte das einzige eines Kornwestheimers an diesem Abend bleiben.

 

Trotzdem stellt Fangmann dem Bezirksligisten ein Wiedersehen in Aussicht. Wenn sowohl der MTV als auch der SVK in ihrer Liga den Titel holen, „machen wir ein gemeinsames Meisterfoto und ihr könnt die Meisterschale streicheln“, scherzt Fangmann nach dem gemeinsamen Training über die Meisterschale der Blindenfußballer, die – natürlich – mit einer Blindenschrift-Gravur versehen ist.