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„Man entdeckt hier immer wieder Neues“

Sieht das Multimediale und das Digitale als Chance: Vera Hildenbrandt. Foto: Holm Wolschendorf
Sieht das Multimediale und das Digitale als Chance: Vera Hildenbrandt. Foto: Holm Wolschendorf
Die neue Leiterin der Museen des Deutschen Literaturarchivs Marbach, Vera Hildenbrandt, spricht über ihre Pläne für die kommenden Jahre

Marbach. Eine überraschende, da doch eher kurzfristige Personalie kündigte sich Mitte Dezember am Deutschen Literaturarchiv Marbach (DLA) an: Vera Hildenbrandt, bislang stellvertretende Leiterin der Museen, übernimmt zu Beginn des Jahres 2022 die Leitung von Heike Gfrereis, die wiederum eine neue Stabsstelle am DLA aufbaut. Nach ein paar Wochen im Amt spricht die neue Leiterin nun im Interview über den besonderen Geist der Schillerhöhe, literarische Herzensthemen und die Chancen des Digitalen.

Frau Hildenbrandt, Sie sind seit Mitte 2019 im Haus, seit vergangenem Jahr als stellvertretende Leiterin der Museen – und nun als Leiterin. Ein schneller Aufstieg. Wie gut kennen Sie das DLA mittlerweile?

Vera Hildenbrandt: Tatsächlich kenne ich das DLA seit über 20 Jahren, weil ich über Alfred Döblin promoviert wurde, der hier zentraler Bestandsbildner ist. Ich kenne das Deutsche Literaturarchiv als Nutzerin, als Forscherin und aus meiner Zeit, als ich an der Universität Trier gearbeitet habe, auch als Kooperationspartner. Wir haben damals ein Editionsprojekt über Exilbriefe durchgeführt, der Bestand kam aus dem DLA, weshalb ich häufig hier war und in die Bestände eingetaucht bin. Und wenn man Ausstellungen macht, durchläuft man zwangsläufig alle Abteilungen des Hauses und lernt alles kennen. Sicherlich nicht bis in den letzten Winkel. Aber das ist ja auch das Schöne hier: Man entdeckt immer wieder Neues!

Was zeichnet das DLA aus, aus Ihrer Sicht?

Der Geist, der hier hindurchweht. Schon vor 20 Jahren hätte ich gesagt, es ist ein Paradies für Forscher. Mittlerweile weiß ich, dass es das auch ist, wenn man hier arbeitet und Ausstellungen machen kann. Das Miteinander von Museum, Bibliothek, Archiv – die Vielfalt dessen, was hier zusammenkommt, macht aus der Schillerhöhe einen ganz besonderen Ort.

Für Außenstehende war der personelle Wechsel von Heike Gfrereis zu Ihnen, der im Dezember angekündigt wurde, etwas überraschend. Wie ist es aus Ihrer Sicht?

Ich habe sehr eng mit Frau Gfrereis zusammengearbeitet, habe sehr viel von ihr gelernt. Und setze Dinge fort, die schon vor meiner Zeit hier initiiert wurden. Insofern ist es kein Bruch, sondern ein Wechsel, der Fortsetzung und Weiterentwicklung bedeutet.

Sie haben bereits zwei Ausstellungen kuratiert oder mitkuratiert. Was haben Sie davon mitgenommen, welcher Ausstellungstyp funktioniert hier?

Bei „Hölderlin, Celan und die Sprachen der Poesie“ ist mir besonders aufgefallen, dass es eine Ausstellung ist, die ein breites Publikum anspricht. Sehr eindrücklich ist mir eine Führung mit einer Familie in Erinnerung geblieben: sehr literaturinteressierte Großmutter, ebenso die Tochter, der Ehemann weniger, und zwei Kinder von neun bis elf. Ich würde sagen, bei der Ausstellung ist es uns gelungen, alle zu begeistern: sowohl den Literaturbegeisterten als auch den Flaneur mit einer gewissen Neugier. Aber auch die Kinder, die hier Perspektiven öffnen, die für uns Erwachsene sehr wichtig sind.

Jeder Kurator hat seinen eigenen Stil. Ellen Strittmatter hatte sich das Bild auf die Fahnen geschrieben, Frau Gfrereis hatte zuletzt stark den interaktiven Charakter betont, Literatur zum Anfassen. Wie würden Sie Ihren Stil definieren?

Ich würde das Interaktive keinesfalls missen wollen, da man sieht, dass Besucher darauf reagieren. Es ist eine Entwicklung, der man sich als Museum nicht verschließen kann. Sehr gerne würde ich darüber nachdenken, bestandsintensiver zu werden, mehr in die Tiefen des Archivs einzutauchen, mehr ans Licht zu holen und zu zeigen. Und ich möchte gerne darüber nachdenken, wie das Museum noch multimedialer werden kann. Die aktuelle Dauerausstellung ist sehr textorientiert – was ich als Literaturwissenschaftlerin keineswegs negativ finde. Aber Literatur ist ja nicht nur Text im gedruckten Buch, sie regt die Fantasie an, erzeugt Bilder im Kopf, wird laut gelesen, aufgeführt. Es gibt einen Medienwechsel, der vielen Archivalien ja bereits innewohnt. Das noch etwas mehr herauszukitzeln durch die Art, wie wir ausstellen, ist eine spannende Aufgabe.

Was könnten Sie sich da konkret vorstellen?

Dass man in einer Ausstellung zu Kafka etwa nur Manuskripte zeigt, muss ja nicht sein. Kafkas Werk auf vielfältige Weise sinnlich erfahrbar zu machen, für das Auge, etwa über filmische Adaptionen, und für das Ohr, um einfach zu hören: Wie wird Kafka gelesen? Was passiert mit Literatur, wenn auf einmal viele ans Werk gehen? Das Schreiben ist etwas, das man sich landläufig sehr einsam vorstellt. Wenn man an einen Film denkt, ist es ein Werk vieler. Das sind spannende Prozesse, die man neu aufdecken kann und für die man Formen finden muss.

Unterm Strich aber dann ein etwas weniger spielerischer Zugang?

Wir sind hier auf der Schillerhöhe – und Schiller hat das Spiel sehr geschätzt. Wir wollen ein großes Publikum ansprechen, die Forscherin, den Flaneur, der sich den Kontext wünscht, aber natürlich auch Studierende und Schüler, etwa über die Sternchenthemen im Deutschunterricht. Wir wollen die Kooperationen mit Schulen verstärken. Wir könnten uns auch vorstellen, Kinder mitkuratieren zu lassen, um deren Blickwinkel mit einfließen zu lassen. Kinder könnten auch Führungen machen, die sie in Workshops erarbeitet haben.

Führungen für Kinder, aber auch für Erwachsene?

Ja, beides. Das kann spannend sein. Erwachsene haben vieles verlernt, was Kinder noch mitbringen. Sie stellen andere Fragen, die die Fantasie anregen können. Etwa: Warum ist die Nase von Mörike so krumm? Das hat mich ein elfjähriges Mädchen mal bei einer Führung gefragt. (lacht) Sie stand vor der Totenmaske, fürchtete sich aber nicht, sondern stellte Fragen. Da habe ich überlegt, was ich jetzt antworte: Ist die Nase einfach so – oder ist vielleicht so etwas passiert wie bei der Maske von Friedrich Nietzsche, die einfach technisch missglückt ist.

Was wäre denn ein literaturgeschichtliches Herzensthema von Ihnen, das Sie gerne mal beleuchten würden?

In den 2020ern stehen viele Gedenkjahre und runde Geburtstage an, etwa Mörike, Rilke, Hesse, Heidegger. Aber auch Döblin! Darüber freue ich mich natürlich unglaublich – zumal bei meinen Recherchen damals und bei der Ausstellung 1978 viele Bestände aus urheberrechtlichen Gründen noch gesperrt waren. Döblin ist ein Autor, bei dem man noch besonders viel entdecken kann. Er hat mal gesagt: „Wir gehören nicht in die Schränke, sondern in die Köpfe und in die Seelen.“ Das ist ein schönes Zitat, wenn man ans Ausstellungsmachen denkt. Das möchte ich als Kuratorin auch machen. Was mich aber auch umtreibt, sind „weiße Flecken“. Was ist das Ungesagte, die Lücken – und wie kann man das ausstellen? Fragmentarische Werke oder Leerstellen auf Manuskripten etwa.

Solche Projekte haben ja immer einigen Vorlauf. Was kommt in nächster Zeit jetzt erstmal?

„punktpunktkommastrich“, die aktuelle Ausstellung, ist ein Projekt in der Reihe „Literatur bewegt“, da wird es noch drei weitere geben, die sich mit dem Medienwechsel beschäftigen. Die nächste – zum Film – kommt im September. Und wir sind dabei, die Dauerausstellung des Schiller-Nationalmuseums neu zu konzipieren, eröffnen wollen wir sie nächstes Jahr. Und das Kafka-Jubiläum 2024 ist natürlich auch schon in unseren Köpfen.

Wie sind Sie persönlich eigentlich zur Literatur gekommen?

Ich konnte schon lesen, bevor ich in die Schule kam, habe viel und gerne gelesen. Auf dem Gymnasium hatte ich unglaublich gute Deutschlehrer, die uns sehr gefördert haben. So richtig ins wissenschaftliche Denken gekommen bin ich mit 16, durch Christoph Ransmayrs „Die letzte Welt“, das war eine Initialzündung. Angesprochen hat mich die Art, wie man sich aus der Antike Stoffe anverwandelt, um moderne Aussagen zu treffen. Und der Stil, die Bilder, die er entwirft. Das hat sich mir sehr eingeprägt.

Wie sehen Sie das aktuelle Miteinander von Präsenz, Digitalem oder Hybriden im Veranstaltungsbereich wegen Corona?

Es ist auch eine Chance. Man möchte das eine haben, ohne das andere zu lassen. Wir hatten Zoom-Führungen, die zu Familienzusammenkünften aus aller Welt wurden. Ein tolles Erlebnis. Auch wenn Forscher aus China, die nicht mal eben schnell vorbeikommen können, bei Veranstaltungen dabei sind, ist das wunderbar. Mit dem digitalen Ausstellungsraum www.literatursehen.com haben wir diesen Weg ja ohnehin eingeschlagen, mit Dokumentationen von Wechselausstellungen, die nicht mehr zu sehen sind. Aber natürlich nimmt einem der digitale Raum auch etwas, das man hier vor Ort hat: das Zusammenspiel von Architektur, Literatur im Raum und Gestaltung. Das kann das Digitale nicht leisten. Deshalb sehe ich es immer als eine Ergänzung.

Wie oft sind Sie eigentlich unten im Archiv?

Das kommt darauf an, in welcher Phase der Ausstellungsvorbereitung man ist. Wenn man gerade auswählt, gibt es keinen Tag, an dem ich nicht im Lesesaal oder im Magazin bin. Das ist wichtig, weil man einfach viele Dinge entdeckt. Es lohnt sich immer!

Zur Person:

Geboren wurde Dr. Vera Hildenbrandt 1971 in Trier, wo sie auch Germanistik und französische Philologie studierte. Ihre Promotion in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft schrieb sie zum Thema „Europa in Alfred Döblins Amazonas-Trilogie. Diagnose eines kranken Kontinents – im Spiegel des Eigenen und des Fremden“. Nach mehrjähriger Lehrtätigkeit in den Fächern Germanistik und Digital Humanities an der Universität Trier (2011 bis 2019) wechselte sie im August 2019 als wissenschaftliche Mitarbeiterin in die Museumsabteilung des Deutschen Literaturarchivs Marbach (DLA). Im Februar 2020 wurde sie stellvertretende Leiterin der Museen des DLA, seit Januar 2022 ist sie deren Leiterin.