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Stille als ästhetische Erfahrung

Trilemma der Inklusion: Jeffrey Döring widmet sich bilingualen Produktionen. Foto: David Klumpp
Trilemma der Inklusion: Jeffrey Döring widmet sich bilingualen Produktionen. Foto: David Klumpp
Bei „Montags an der ADK“ spricht der Regisseur und Dramaturg Jeffrey Döring über Theater und Gebärdensprache

Ludwigsburg. Mit dem Regisseur und Dramaturgen Jeffrey Döring war ein Experte zum Thema Gebärdensprache im Theater beim ersten Termin von „Montags an der ADK“ zu Gast. Aufgrund der Pandemiesituation konnte die Veranstaltungsreihe der Akademie für Darstellende Kunst (ADK) in Zusammenarbeit mit der Ludwigsburger Kreiszeitung bereits zum dritten Mal ausschließlich online stattfinden – ein Umstand, der sich im Folgenden als geradezu instruktiv erweisen sollte. Bevor Döring, der nach einem Studium der Theaterwissenschaft, Philosophie und Germanistik an der Freien Universität Berlin ein Masterstudium der Dramaturgie an der ADK absolviert hat, von seinen Erfahrungen bei der Arbeit mit Gehörlosen berichtete, ging er zunächst auf einige Grundlagen der Deutschen Gebärdensprache (DGS) ein. Bereits aus der Kenntnis der Grundbausteine der DGS lasse sich ableiten, wie diese auch künstlerisch nutzbar gemacht werden könne – sowohl in choreografischen Arbeiten als auch im Schauspiel. So sei bemerkenswert, dass nicht nur Finger- und Handstellung, sondern auch die sie begleitende Mimik und Mundstellung erhebliche Bedeutungsunterschiede ausdrücken können. „Ohne Gesichtszüge lässt sich Gebärdensprache nicht sprechen“, betonte der 1991 geborene Theatermacher. Lediglich anhand der Mundstellung könne man beispielsweise unterscheiden, ob ein und dieselbe Gebärde Hund, Junge oder Wasser bedeutet.

Doch nicht nur hinsichtlich des Vokabulars, sondern auch bezüglich der Grammatik sei die Mimik semantisch relevant: So entscheide etwa die Stellung der Augenbrauen darüber, ob es sich bei einer Äußerung um eine Frage oder Aussage handle. Weitere grammatische Unterschiede zur Lautsprache betreffen den Satzbau – in der DGS folgt auf das Subjekt zunächst das Objekt, dann erst das Prädikat – sowie die Synthese von Bedeutungseinheiten durch Bewegung von Gebärden im dreidimensionalen Raum. „Besonders spannend für das Theater ist, dass es in der Gebärdensprache sogenannte Rollenwechsel gibt“, so Döring.

Dadurch, dass viele Gebärdensprachen weder über Konjunktiv noch über indirekte Rede verfügen, seien Sprechende gezwungen, – in unmittelbarer Analogie zur schauspielerischen Leistung – die Perspektive einer dritten Person (oder auch eines Gegenstands) einzunehmen und nicht nur das Gesagte, sondern auch Körperhaltung, Verfassung und Emotion nachzuspielen. „Das Theaterspielen, das Rollenspiel, die Mimesis, ist der Gebärdensprache als grammatische Form eingeschrieben – nicht als zusätzliche Option wie in der Lautsprache, sondern als tatsächlicher Teil der Grammatik“, unterstrich Döring, dessen Arbeiten auch schon bei den Ludwigsburger Raumwelten, am Theater Rampe in Stuttgart, am Volkstheater Rostock, beim Festival Premières in Karlsruhe und beim Podium Festival Esslingen zu sehen waren.

Das künstlerische Potenzial der DGS illustrierte ein Video der Schauspielerin Athina Lange, die 2015 als Gehörlose ihre Schauspielausbildung in Leipzig abgeschlossen hat. Visual Vernacular etwa ist eine spezielle Kunstform, die visuell-filmisches Erzählen ohne festgefügtes Vokabular erlaubt. Lange verkörpert auch eine der drei Figuren in „Silent Orpheus“, einem der jüngsten Theaterprojekte von Döring, das er im Anschluss vorstellte. Wie bei seinen anderen bilingualen Produktionen – darunter mit „Rat Krespel“ ein so ambitioniertes Vorhaben wie die „erste Gehörlosen-Oper“ – verfolge er hier das Ziel, Stille als ästhetische, aber auch als quälende Erfahrung spürbar zu machen. Grundlage für diese Arbeiten sei für ihn gewesen, zumindest ein Basiswissen der DGS zu erwerben.

In einem kurzen Exkurs wies er auch auf Schwierigkeiten solcher Ansätze hin, die mit dem Mangel an diskriminierungsfreien Begriffen beginnen und beim „Trilemma der Inklusion“, die sich stets in einem nie völlig auflösbaren Dreieck von Normalisierungsbestreben, Dekonstruktion defizitärer Zuschreibungen und Ermächtigung der Marginalisierten bewege, noch lange nicht aufhören. Wie schwierig es tatsächlich für Gehörlose ist, ihren Anliegen Gehör zu verschaffen, wurde bei der abschließenden Diskussion offenkundig: „Anne spricht“ stand im Chat zu lesen – aber weil die Zoom-Fenster der meisten Teilnehmer (den Voreinstellungen entsprechend) auf den Referenten fokussiert waren, nahm zunächst kaum jemand wahr, was die gehörlose Teilnehmerin anzumerken hatte, bis jemand aus dem Auditorium darauf aufmerksam machte und Döring übersetzte: Ausgerechnet bei diesem Thema hatte man nicht daran gedacht, den Vortrag mittels Gebärdendolmetscher auch Gehörlosen zugänglich zu machen. „Die Kritik ist berechtigt“, räumte ADK-Direktorin Elisabeth Schweeger ein und stellte eine entsprechende Nachbearbeitung des Videos auf dem Youtube-Kanal der Akademie in Aussicht.

Gleichzeitig ließ sie keine Zweifel an der Relevanz des Themas für ihre Einrichtung aufkommen: Bis zu einem Schauspielstudiengang für Gehörlose dürfte es zwar noch ein langer Weg sein, aber das Angebot von Workshops als ersten Schritt dahin sollte man „auf jeden Fall andenken“, so Schweeger.