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Trutzburgen im Meer der Poesie

Poesie als Instrument des Experimentierens: Carolin Callies (links) und Markus Manfred Jung mit Mäzenin Petra Schmidt-Hieber. Foto: Holm Wolschendorf
Poesie als Instrument des Experimentierens: Carolin Callies (links) und Markus Manfred Jung mit Mäzenin Petra Schmidt-Hieber. Foto: Holm Wolschendorf
Verleihung des Gerlinger Lyrikpreises an Carolin Callies und Markus Manfred Jung

Gerlingen. Alemannische Mundart-Dichtung als eigene, durchaus einsame Mission einerseits, assoziative Lyrik als zuweilen drastisches, jedoch nie langweiliges Konzept von Körperlichkeit auf der anderen Seite: Unterschiedlicher könnte das poetische Werk der Preisträger des Gerlinger Lyrikpreises Markus Manfred Jung (2022) und Carolin Callies (2020) nicht sein. Gerade in ihrer Unterschiedlichkeit leuchten beide Künstler die enorme Spannbreite hochstehender Gegenwartslyrik aus, verschaffen sich im weiten Meer postmoderner Dichtkunst beinahe trotzig Gehör. Unter rund hundert anonymen Einsendungen wählte eine Fachjury die Prämierten aus, erläuterte die engagierte Lyrik-Liebhaberin und Mäzenin Petra Schmidt-Hieber das Auswahlverfahren, das der pandemiebedingten Doppel-Verleihung des mit 7500 und 10000 Euro dotierten Preises in der Gerlinger Stadtbücherei vorausging.

Die in Mannheim 1980 geborene Lyrikerin, Übersetzerin und Literaturvermittlerin Carolin Callies thematisiert in ihren Gedichten mit stets überraschenden Wendungen sprichwörtlich „Poesie aus Leibeskräften“, so Michael Braun in seiner Laudatio. Ein „Feilen der Wörter und der Knochen“, ein Wunschkonzert der freilich schwerer verdaulichen Art, das sie in ihrer Dankesrede unter anderem mit den Gedichten „Ich wünschte, aber ohne Wetter“ und „Ich wünscht, er gäb’s den seinen in den Leib“ blitzend-witzig vortrug: „Haben Sie auch schwundstein an der knochen statt? / gehen Ihnen auch die nagenfernen knochenfeiler auf ein spitzes ende zu? / gesetzt & sitz & platz & nun hüt ich die knochen, den sand & die kiesel, so fein.“ Callies’ Poesie als chirurgisches Instrument des Experimentierens mit Sprache, die anregt – zum Nachdenken, Nachspüren, und die die Jury, bestehend aus Michael Braun, Irene Ferchl, Hans Thill, Wolfgang Tischer und dem mittlerweile ausgeschiedenen Henning Ziebritzki einstimmig überzeugte.

Poesie der völlig anderen Art schreibt Markus Manfred Jung, Jahrgang 1954, Dichter und Schriftsteller aus der Gemeinde Kleines Wiesental im Südbadischen. Geprägt von seinem Vater, dem Mundartdichter Gerhard Jung, widmete der vielfach ausgezeichnete Lyriker sich schon früh der alemannischen Mundart – einem „Sprachfehler halt“, der sich, wie Jung augenzwinkernd bei der Preisverleihung betonte, „später auswächst – und zwar bis nach Gerlingen.“ Mehrfachdeutungen eines Wortes wie „und“ – im Alemannischen „un“ –, in der Mundart besser als im Hochdeutschen möglich, haben es ihm besonders angetan. So in seinem Gedicht „Ungeduld“, das er wiederum auf Alemannisch und Hochdeutsch vorträgt, und das doppelsinnig eben auch als „und Geduld“ verstanden werden kann. Überhaupt, das Verstehen: Erst im Live-Vortrag entfaltet Jungs alemannische Lyrik ihren speziellen Charme. Sie bringe, so Laudator und neues Jury-Mitglied Walle Sayer, „das Eigene und Eigenartige zum Klingen“ und bedeute stets eine „einsame Mission“, die für Mundartdichter noch einsamer, noch verlorener sei, der Jung jedoch mit „erschütterlicher Gelassenheit“ begegne.

Auf musikalisch hohem Niveau begleitete das Duo Vlady Vitaly (Gesang) und Yury Fedorov (Saxophon, E-Piano) mit jazzigen Stücken wie „Summertime“ und „Twisted“ durch den Abend. Viel Beifall und jede Menge wippende Füßen in der gut gefüllten Bücherei sorgten dafür, dass Petra Schmidt-Hieber sich zum Abschluss des offiziellen Programms zwei Zugaben des Duos wünschte. Schließlich, so Schmidt-Hieber, wolle ihre Stiftung auch exzellenten Musikern gebührend Gehör verschaffen.