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„Wir erleben sie als sehr stark“: Zwei Schwieberdingerinnen haben geflohene Ukrainerinnen aufgenommen

„Wie eine große Familie“: Julia Spikker und Anna Pollerhoff mit ihren Männern sowie geflohenen Ukrainerinnen und deren Kindern in Schwieberdingen. Foto: privat
„Wie eine große Familie“: Julia Spikker und Anna Pollerhoff mit ihren Männern sowie geflohenen Ukrainerinnen und deren Kindern in Schwieberdingen. Foto: privat
Julia Spikker und Anna Pollerhoff sind Schwestern, kommen aus Schwieberdingen und haben vor gut zwei Wochen vier ukrainische Frauen mit Kindern aufgenommen. Ein Gespräch über Fremde, die zur Familie werden, Dankbarkeit und Heimatliebe.

Schwieberdingen. Frau Spikker, Frau Pollerhoff, wie ist es, mit fremden Menschen unter einem Dach zu leben?

Julia Spikker: Für mich hat es sich von Beginn an so angefühlt, als würden wir uns alle schon lange kennen. Wir sind auf sehr herzliche, offene und dankbare Menschen gestoßen. Unsere ukrainischen Gäste kamen am 18. März, einem Freitag, um 11 Uhr in Stuttgart am Hauptbahnhof an, haben sich danach zunächst etwas ausgeruht und geduscht – und dann saßen wir schon zusammen und sind ins Gespräch gekommen. Für den ersten Mittag hatten wir eine Dolmetscherin organisiert. Dieses Gefühl von Fremdheit war ganz schnell weg.

Anna Pollerhoff: Wir hatten gar nicht so viel Zeit, darüber nachzudenken, wie es ist, mit fremden Menschen zusammenzuleben. Es war montags klar, dass wir die vier Frauen und Kinder aufnehmen würden und freitags waren sie bereits bei uns. Wir hatten extrem viel Stress in den Tagen davor, alles herzurichten. Zum Glück ist Julia aktuell in Elternzeit und ich, als selbstständige Hochzeitsfotografin, arbeite von zu Hause aus.

Spikker: Unsere Freunde und Bekannten haben uns im Vorfeld gewünscht, dass wir nette und dankbare Familien bekommen. Unsere Haltung war aber eher: Wir machen das nicht, um Freunde zu finden oder nette Kochabende zu haben, sondern um zu helfen. Dass es jetzt so gut passt, ist natürlich doppelt schön. Wir fühlen uns wie eine Familie.

Pollerhoff: Ich hatte das Gefühl, dass besonders Außenstehende nicht so richtig im Kopf hatten, dass wir Menschen, aufnehmen, die aus einem Kriegsgebiet kommen, ihre Männer und weite Teile der Familie zurückgelassen haben und womöglich traumatisiert sind. Die haben sich eher gemütliche Spieleabende vorgestellt.

Wo schlafen die Frauen mit ihren Kindern?

Spikker: Wir haben bei uns im Keller ein zusätzliches Zimmer, das wir schön hergerichtet haben. Dazu gibt es eine separate Dusche und ein Waschbecken. Sie haben unten ihr eigenes Reich. Die Wohnräume wie Küche und Wohnzimmer nutzen wir gemeinsam.

Pollerhoff: Wir haben unser Arbeitszimmer umfunktioniert. Gleich nebenan gibt es auch ein Gäste-WC, das sie komplett alleine nutzen können. Wir teilen uns Bad, Wohnzimmer und Küche.

Was haben Ihre Männer dazu gesagt, dass Sie Geflüchtete aus der Ukraine aufnehmen wollen?

Spikker: Wir waren in der Woche vorher mit der ganzen Familie im Skiurlaub und hatten da schon überlegt, ob wir uns auf einer Seite registrieren lassen und Wohnraum anbieten sollten. Durch Zufall ist dann alles ganz schnell gegangen.

Pollerhoff: Es war sofort klar, dass unsere Männer mitmachen würden.

Bei Ihnen, Frau Spikker, lebt jetzt eine 54 Jahre alte Frau mit ihrer 32 Jahre alten Tochter und dem fünfjährigen Enkelsohn. Bei Ihnen, Frau Pollerhoff, zwei Freundinnen, die 31 und 24 Jahre alt sind. Eine hat eine knapp acht Monate alte Tochter, die andere ist im fünften Monat schwanger. Wie sind sie zu Ihnen gekommen?

Pollerhoff: Am Sonntag nach unserem Urlaub kam ich per Zufall mit einer Pflegekraft aus der Nachbarschaft ins Gespräch. Diese war verzweifelt auf der Suche nach einer Bleibe für ihre Familie aus der Ukraine. Es ging dabei um ihre Schwiegertochter, ihre Enkelin und deren schwangere Freundin. Nach wenigen Minuten war uns klar, dass wir sie bei uns aufnehmen würden. Ich habe dann meiner Schwester von dieser Begegnung erzählt.

Spikker: Ich musste nicht lange überlegen und habe Anna gesagt, dass wir auch Platz hätten und Menschen in Not aufnehmen könnten. Wir sind dann nochmals mit der Pflegekraft ins Gespräch gekommen, die uns von ihrer besten Freundin und ihrer Familie erzählte. Sie sagte uns, dass sie auch gerne kommen würden.

Wie verlief die Fluchtroute?

Pollerhoff: Sie stammen aus einem Dorf bei Poltawa in der Ostukraine. Von dort ist es nicht weit bis Charkiw und an die russische Grenze. Mit dem Bus sind sie nach Polen gekommen. Allerdings mussten sie knappe zwei Tage an der ukrainisch-polnischen Grenze auf ihre Einreise warten.

Spikker: Das nächste Problem gab es in Krakau. Dort kam es offenbar zu Cyberangriffen, was dazu führte, dass sie sieben Stunden auf einen Zug warten mussten, der sie nach Berlin brachte. Insgesamt waren sie von Montag bis Freitag unterwegs.

Pollerhoff: Sie sind mit sehr wenig Gepäck gekommen, aber hatten trotzdem Geschenke für uns dabei. Kuscheltiere, Spielzeug, Pralinen und eine Flasche Wodka. Das fanden wir sehr rührend. Sie hatten keinen Kinderwagen und keine Trage zur Verfügung, dafür fünf Tage lang ein Baby auf dem Arm.

Wie haben Sie sich auf die Beherbergung vorbereitet?

Spikker: Wir hatten schon ein Doppelbett, eine Freundin hat uns ein Kinderbett zur Verfügung gestellt. Ich habe zwar auch einen kleinen Sohn, aber nicht im gleichen Alter. Andere Freunde versorgten uns mit Kleidung und altersgerechten Spielzeugen, die wir in die Schränke geräumt haben, damit das Gästezimmer schon vor der Ankunft wohnlich wirkt. Andere haben uns Regale, Nachttische oder Lampen gebracht. Wir waren auch in der Drogerie und haben Hygieneartikel besorgt.

Pollerhoff: Uns war wichtig, dass es schön und nicht zusammengewürfelt aussieht. Wie waren bereits seit einem Jahr dabei, unsere neue Wohnung zu renovieren. Wir waren auch schon in den Endzügen, doch die Küche und die Bäder mussten noch fertiggestellt werden, und es gab keine Lichtschalter. Das alles haben wir innerhalb von vier Tagen hergerichtet und sind gemeinsam eingezogen.

Spikker: Es hat sich mittlerweile ein Netzwerk aus rund 80 Leuten gegründet. Wir haben eine Whatsapp-Gruppe eingerichtet, in die ich schreiben kann, wenn wir Hilfe brauchen. Vom Autositz bis zum Kinderwagen – irgendeiner kann immer etwas besorgen. Selbst Unterkünfte für weitere ukrainische Familien haben wir darüber organisiert.

Pollerhoff: Das Ganze ist schnell gewachsen. Eine Frau mit Kind aus der Ukraine ist auf unsere Vermittlung bei Freunden in Schwieberdingen untergekommen, eine vierköpfige Familie ist auf dem Weg.

Wie läuft die Verständigung?

Spikker: Es gibt eine App, die „Google Translator“ heißt – und die einwandfrei funktioniert. Sie bilden einen beliebigen Satz, zum Beispiel: „Wie war Euer Tag heute?“, den die App ins Ukrainische übersetzt. Man kann ihn lesen oder sich anhören.

Pollerhoff: Wir haben uns abends auch schon gegenseitig Deutsch und Ukrainisch beigebracht. Dazu kommt ein bisschen Englisch. Vieles funktioniert mit Händen und Füßen.

Welchen Eindruck machen Ihre Gäste?

Spikker: Ich erlebe sie als sehr stark. Das Kriegsgeschehen in ihrer Heimat geht aber natürlich nicht spurlos an ihnen vorbei. Sie machen sich Sorgen um ihre Männer und ihre Familien. Gleichzeitig sind sie dankbar über Ablenkungen. Wir gehen zusammen auf den Spielplatz oder machen Ausflüge.

Pollerhoff: Wenn wir zusammen sind, haben wir meist eine gute Stimmung, Gesellschaft scheint ihnen gutzutun. Aber wir bekommen auch mit, dass Tränen fließen, wenn sie alleine sind.

Spikker: Man spürt, dass sie sehr aufgewühlt sind, wenn sie mit ihren Männern oder Angehörigen in der Heimat telefoniert haben.

Erleben Sie schon so etwas wie Alltag?

Spikker: Wir hatten in den vergangenen Tagen viel mit Organisation zu tun. Wir mussten Anträge auf Asyl und Sozialhilfe stellen. Vorher haben wir Konten eröffnet, denn Sozialhilfe bekommen sie in Deutschland nur, wenn sie eine deutsche Bankverbindung haben. Jetzt müssen wir noch biometrische Bilder machen lassen, Haftpflichtversicherungen abschließen und deutsche Sim-Karten fürs Handy organisieren.

Pollerhoff: Wir haben unseren Gästen das Dorf und Einkaufsmöglichkeiten gezeigt, damit sie sich auch alleine bewegen und zurechtfinden können.

Gibt es in Schwieberdingen schon eine kleine ukrainische Community?

Spikker: Ja, tatsächlich. Im Rathaus hieß es in der vergangenen Woche, dass mittlerweile rund 60 ukrainische Personen angekommen sind. Am vorvergangenen Montag startete zudem ein Deutschkurs in Schwieberdingen, an dem unsere Frauen teilnehmen.

Haben Sie auch Kontakt zu Menschen mit russischem Hintergrund?

Spikker: In unserem Bekanntenkreis gibt es Personen mit russischem Hintergrund. Zu Konflikten hat das noch nicht geführt. Man darf die Menschen hier nicht mit Putin gleichsetzen. Unsere Gäste haben bereits des Öfteren Kontakt und Austausch mit russisch sprechenden Mitbürgern gehabt.

Pollerhoff: Bei uns ist noch nie ein schlechtes Wort über Russen gefallen. Es geht wenn dann nur um Putin.

Wollen sich Ihre ukrainischen Gäste hier jetzt eine Wohnung suchen?

Spikker: Für sie steht fest, dass sie zurück in die Ukraine gehen werden, wenn der Krieg vorbei sein wird. Ihre Heimatliebe ist sehr ausgeprägt. Sie können bei uns bleiben, so lange sie wollen.

Pollerhoff: Ich habe nicht den Eindruck, dass sie vorhaben, jetzt auf Wohnungssuche zu gehen. Das hätte etwas Endgültiges. Für sie steht fest, dass sie zurückkehren werden – egal, in welchem Zustand ihr Land nach dem Krieg sein wird. Unser Zusammenleben ist wie in einer WG, es fühlt sich keiner gestört. Ich wäre eher traurig, wenn sie sich jetzt eine eigene Wohnung suchen würden.

Was fällt Ihren Gästen an Deutschland besonders auf?

Spikker: Dass wir organisiert sind und Mülltrennung haben (lacht). Außerdem freuen sie sich sehr über die Hilfsbereitschaft, die sie hier erfahren. Man muss aber auch sagen, dass die Ukraine kein Dritte-Welt-Land ist. Die Kinderzimmer dort sind voller Spielzeug, wie bei uns, die Menschen gehen einkaufen – sie kommen nicht aus der Armut zu uns.

Pollerhoff: Für sie ist es kein Kulturschock, jetzt in Deutschland zu sein. Auch unsere Werte sind identisch.

Was raten Sie Menschen, die noch zweifeln, ob sie Geflüchtete aus der Ukraine aufnehmen sollen?

Spikker: Nicht so viel nachdenken, sondern einfach machen. Als Mutter eines kleinen Sohnes ist mir in den vergangenen Wochen immer wieder eine Frage durch den Kopf gegangen: Was würde ich in solch einem Moment tun? Auf jeden Fall würde ich mich freuen, wenn es irgendwo auf der Welt eine Familie geben würde, die uns aufnimmt und wir nicht in Turnhallen schlafen müssten.

Pollerhoff: Es entstehen gerade Freundschaften fürs Leben.

Spikker: Die Kinder spielen und streiten sich schon wie Geschwister. Unsere ukrainische Oma kümmert sich um meinen Kleinen wie um ihren Enkelsohn.