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Interview
„Diese Erinnerungen sind unauslöschlich“

„In manchen Regionen der Provinz Bergamo haben fast 40 Prozent der Einwohner Covid-19-Antikörper entwickelt“: Bürgermeister Giorgio Gori in seinem Büro. Bergamo war einer der Hotspots der Coronakrise – und registriert derzeit relativ niedrige Fallzah
„In manchen Regionen der Provinz Bergamo haben fast 40 Prozent der Einwohner Covid-19-Antikörper entwickelt“: Bürgermeister Giorgio Gori in seinem Büro. Bergamo war einer der Hotspots der Coronakrise – und registriert derzeit relativ niedrige Fallzahlen. Foto: Alvise Armellini/dpa
Ludwigsburgs Partnerregion Bergamo, im Frühjahr im Mittelpunkt des italienischen Dramas um das Coronavirus, scheint derzeit besser durch die Krise zu kommen als andere. Ein Gespräch mit dem Bürgermeister Giorgio Gori über rote Zonen, den Soundtrack der Pandemie und Solidarität.

Ludwigsburg/Bergamo. Herr Bürgermeister Gori, wie ist die Lage gerade in Bergamo?

Sie ist mit der ersten Welle nicht zu vergleichen, besonders in unserer Stadt nicht. Bergamo und das Seriana-Tal waren im Frühjahr das Epizentrum der Pandemie, aktuell erleben wir eine verhältnismäßig ruhige Lage. Die Erhebungen sagen uns, dass wir die am wenigsten betroffene Region in der Lombardei sind.

Woher kommt das?

Das kommt in erster Linie, auch wenn wir es noch nicht ganz sicher wissen, von einer gewissen Immunität. In manchen Regionen der Provinz Bergamo haben fast 40 Prozent der Einwohner Covid-19-Antikörper entwickelt. Eine Rolle spielt aber auch, dass die Bürger in den Sommermonaten sehr verantwortlich gehandelt haben, was zum Beispiel das Maskentragen, Abstandhalten und häufiges Händewaschen anbelangt.

Warum sieht es bei Ihrem Nachbarn Mailand dramatischer aus?

Mailand war während des Notstandes im März und April einigermaßen geschützt, stattdessen hatte es Cremona, Bergamo und Brescia stark getroffen. Heute hat sich das umgekehrt: Wer von der ersten Welle verschont geblieben ist – oder nur leicht betroffen war –, sieht sich mit einer besorgniserregenden Infektionsentwicklung konfrontiert. Die Gründe dafür: Die Lombardei allein zählt zehn Millionen Einwohner, hat eine sehr gute Infrastruktur mit viel Austausch, Bewegung und vielen Arbeitsplätzen. Sie zu isolieren, ist sehr schwer. Das Virus breitet sich sehr schnell aus.

Machen Sie sich Sorgen, weil auch bei Ihnen die Infektionszahlen wieder steigen?

Ja, sicher. Die erste Welle hat uns gezeigt, dass wir umsichtig sein müssen, mehr noch, als uns die Zahlen vorgeben. Glücklicherweise sind die derzeitigen Krankheitsverläufe in der Stadt nicht so schwer. Unsere Krankenhäuser sind bereit, das Gesundheitssystem der Provinzen Mailand, Monza und Varese zu unterstützen, besonders in großen Notlagen.

Haben Sie persönlich Angst, sich anzustecken?

Davor habe ich nie wirklich Angst gehabt. Ich lebe mein Leben verantwortlich und mit allen Vorsichtsmaßnahmen, die wir in den vergangenen Monaten kennengelernt haben. Ich habe mehr Angst um meine Mutter, die fast 91 Jahre alt ist. Sie muss strikt zu Hause bleiben. Ich sorge mich um meine Familie im Allgemeinen.

Welche Einschränkungen gibt es gerade in Ihrer Stadt?

Aktuell ist die ganze Lombardei von der Regierung als rote Zone deklariert worden, um die Lage in den Griff zu bekommen. Es gibt ein Ausgangsverbot von 22 Uhr bis 5 Uhr, tagsüber darf man das Haus nur verlassen, um zur Arbeit zu gehen, aus Gesundheitsgründen und um Besorgungen zu machen. Die weiterführenden Schulen machen Fernunterricht, es besteht Maskenpflicht auch im Freien. Bars, Restaurants und bestimmte Geschäfte bleiben geschlossen.

Halten Sie es für richtig, dass das öffentliche Leben wieder heruntergefahren worden ist?

Die von der italienischen Regierung vorgegebene Vorgehensweise basiert auf 21 objektiven Indikatoren. Dazu gehören zum Beispiel die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems oder der RT-Wert. Diese Werte werden auf Basis der Daten errechnet, die die Regionen jede Woche melden. Ich bin kein Virologe: Wenn unser technisch-wissenschaftlicher Ausschuss diese Vorkehrungen angesichts der gemeldeten Daten für notwendig erachtet, glaube ich, dass es richtig ist, diese anzuwenden und zu respektieren.

Wollten die Leute vor dem zweiten Lockdown noch einmal raus in Bars, Restaurants oder Clubs, wie in Deutschland geschehen?

Aber sicher. Ich denke, das ist zu einem gewissen Grad auch verständlich. In Italien hatten wir einen langen Lockdown im Frühjahr, der etwa zwei Monate dauerte. Dass die Gesellschaft wieder hochfährt, war in den darauffolgenden Monaten nachvollziehbar. Der Sommer hat sein Übriges dazu beigetragen, da die Situation, was die Gesundheitsversorgung anbelangt, vergleichsweise entspannt war. Das erweckte den Eindruck, das Schlimmste sei überstanden, das Virus hätte sich abgeschwächt. Aber nichts von alledem stimmt.

Wie schwer fällt den Menschen das sogenannte Social Distancing?

Wir sollten nicht vergessen, wie wichtig die Esskultur für unser Land ist. In Bergamo haben wir versucht, dem Rechnung zu tragen und uns neu zu organisieren: Wir haben weitere 200 Außenbewirtschaftungen im Freien genehmigt, Tische auf den Plätzen, entlang der Straßen, um zu garantieren, dass der Bar- und Restaurantbesuch geordnet vonstattengeht. Nicht erlaubt ist Essen und Trinken auf öffentlichen Plätzen. Ich denke, das sind sinnvolle Maßnahmen.

Nehmen die Leute die zweite Welle ernst?

Es ist schwieriger, muss ich zugeben. Die Mehrheit der Bergamasker Bürger versteht sehr gut, was vor sich geht, aber es gibt auch einen Teil, der sich schwertut, die neue Welle zu akzeptieren – obwohl diese ja vorherzusehen war. Diese Leute sind wegen der wirtschaftlichen Folgen für das eigene Auskommen und um ihre Familie besorgt.

Warum ist die zweite Welle so früh und wuchtig gekommen?

Wie schon gesagt, ich bin kein Virologe, deshalb kann ich hier keine Thesen wagen. Aber ich kann sagen, dass schon im Frühjahr viele Experten eine zweite Welle im Herbst vorhergesagt haben, wie es auch bei der Grippe der Fall ist. Die zweite Welle ist vielleicht früher als gedacht und früher als die Grippe selbst gekommen. Aber: Es handelt sich auch um eine Pandemie mit Millionen von Fällen auf der ganzen Welt. Da gibt es nicht viel zu erklären.

Was können Sie als Bürgermeister tun, um die Bevölkerung zu unterstützen?

In Italien verkörpert der Bürgermeister den Staat auf lokaler Ebene – und deshalb wenden sich alle an ihn, gleichgültig, ob die Kompetenzen woanders angesiedelt sind: in der Provinz, der Region, der Regierung. Das, was ein Bürgermeister machen kann, ist, die Regelungen, die regional und national beschlossen werden, zu begleiten und sie den Bürgern bestmöglich zu erklären. Er kann sich die Probleme und Bedürfnisse anhören und handeln, um die Folgen der Beschränkungen abzumildern – alles natürlich gemäß den geltenden Bestimmungen.

Wie helfen Sie der Wirtschaft?

Kürzlich haben wir eine Ankündigung veröffentlicht, um einen Beitrag gegen die Einbußen der Einzelhändler, der Gastronomie und der kleinen Firmen zu leisten. Schließlich konnten wir fast acht Millionen Euro auszahlen, um unsere Wirtschaft zu unterstützen. Wir haben 600 Freiwillige, organisiert über die Kommune, die sich bereithalten, um Einkäufe zu erledigen, Masken zu nähen, Ältere und Gebrechliche in Bergamo mit Arznei zu versorgen, weil sie als Risikogruppe zu Hause bleiben müssen.

Bergamo erlebte im Frühjahr eine Corona-Apokalypse. Wie erinnern Sie sich an diese Zeit?

Diese Erinnerung ist unauslöschlich. Als ich Bürgermeister geworden bin, hätte ich nie daran gedacht, dass ich mit einer Situation wie dieser irgendwann konfrontiert sein würde, die ein kollektives menschliches Drama war, bestimmt von Leiden, Schmerz und Tod. Denke ich an diese Zeit, erinnere ich mich an den Klang des Martinshorns der Krankenwagen, ein andauernder, endloser Soundtrack. Die Stadt war leer und von herzzerreißender Schönheit. Ich erwähne nur diese Eindrücke, aber ich könnte endlos davon erzählen.

Ist Ihre Stadt damals allein gelassen worden?

Nein, das glaube ich nicht. Stattdessen kann ich sagen, dass meine Stadt aus ganz Italien und der ganzen Welt viel Nähe und Zuneigung während dieser sehr harten Monate März und April bekommen hat. Es gab Bürgermeister und Gemeinden, die uns mit unseren Toten geholfen haben, andere haben uns Orangen, sizilianische Cannoli, mit Creme gefülltes Gebäck, oder Zeichnungen geschickt – einfach nur, um uns ihre Anteilnahme zu zeigen. Unsere Einwohner sind in vielen Krankenhäusern anderer Städte aufgenommen und gepflegt worden.

Und Deutschland?

Deutschland hat mehr als 50 Menschen aus Bergamo aufgenommen. Das ist eine bedeutende Geste, die ich sehr geschätzt habe und immer betont habe, wenn ich über die Notwendigkeit einer europäischen Antwort auf die Coronakrise gesprochen habe.

Es kursieren Gerüchte, dass es in Bergamasker Krankenhäusern Behandlungsfehler gegeben habe. Wie stehen Sie dazu?

Das schließe ich kategorisch aus. Unsere Krankenhäuser zählen zu den besten in Italien, und nicht nur in Italien. Wir haben Ärzte, die in der ganzen Welt für ihr Können bekannt sind.

Wo liegt das Problem?

Das regionale System der Lombardei hat im Laufe der Jahre die Gebietsmedizin abgebaut, die Krankenhäuser können als einzige mit Covid-19 umgehen. Sie wurden von einer Welle überspült, und der Damm der Gebietsmedizin war nicht mehr vorhanden. In den Krankenhäusern haben Ärzte, Krankenschwestern und Pflegekräfte alles Menschenmögliche getan. Ich kann nichts anderes tun, als ihnen zu danken.

Der Kreis Ludwigsburg wollte auch Patienten aus Bergamo aufnehmen. Unter dem Strich ist es nicht dazu gekommen. Wie bewerten Sie die Bemühungen?

Auf dieser Solidarität können wir das Europa nach der Pandemie aufbauen. Wir brauchen eine starke Europäische Union mit engen Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Staaten, um die Wirtschaftskrise zu bewältigen, die einige Gebiete unseres Kontinents auch wegen Covid-19 trifft.

Sie haben im September mit der Stadt und dem Kreis Ludwigsburg vereinbart, enger zusammenzuarbeiten. Wie kann diese Kooperation konkret ausfallen?

Dass wir zusammenarbeiten, ist nicht neu. Ich war vor einigen Jahren zu Besuch in Ihrer Stadt Ludwigsburg, die ich sehr schätze. Schon damals habe ich das Potenzial der engen Beziehungen unserer zwei Landkreise beziehungsweise Provinzen wahrgenommen. Ludwigsburg ist auch eine der ersten Städte gewesen, die während der ersten Coronawelle Solidarität gezeigt hat. Konkret gibt es ein großes Interesse unseres technisch-wissenschaftlichen Industrieparks „Kilometro Rosso“ am Landkreis Ludwigsburg. Ich glaube, das könnte ein wichtiges Schwungrad für die zukünftige Entwicklung sein.