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Corona
Leiterin Gesundheitsamt zu Corona: Müssen noch in Habachtstellung bleiben“

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Im August und September haben sich im Kreis 3281 Menschen neu mit dem Coronavirus angesteckt – viermal so viele wie im Spätsommer 2020, als die zweite Coronawelle auflief. Dennoch ist Karlin Stark kaum besorgt: Eine Überlastung des Gesundheitssystems sei derzeit – anders als im Vorjahreswinter und im Frühjahr – nicht zu befürchten, sagt die Gesundheitsdezernentin des Landkreises im LKZ-Interview.

Kreis Ludwigsburg. Frau Dr. Stark, wie beunruhigend ist für Sie der Wiederanstieg der Covid-19-Infektionen auch im Kreis vor dem wahrscheinlich dritten Pandemie-Winter?

Karlin Stark: Aktuell beunruhigt er mich nicht übermäßig. Wir haben diesmal andere Voraussetzungen. Wir haben bundesweit deutlich über 60 Prozent vollständig geimpfte Menschen, die Risikogruppen – etwa die Älteren – sind sogar zu einem sehr hohen Anteil geschützt. Insofern ist die Gefahr durch die bloße Inzidenz diesmal geringer.

Gleichwohl läuft die vierte Welle früher auf als die zweite im Vorjahr. Geht das ganz aufs Konto der Delta-Variante oder sind wir auch unvorsichtiger geworden?

Es ist hauptsächlich der Effekt von Delta. Delta ist aktuell die klar vorherrschende Variante, und sie ist deutlich infektiöser als der Wildtyp.

Das Landesgesundheitsamt führt derzeit über 99 Prozent aller Neuinfektionen auf Delta zurück. Stimmt diese Zahl auch lokal?

Der Anteil der bestätigten Delta-Infektionen an allen positiven Tests liegt bei uns um die 70 Prozent. Der tatsächliche Wert dürfte aber dem des Landes entsprechen. Dazu muss man wissen, dass es einen erheblichen Anteil an PCR-Testungen gibt, die nicht sequenziert – also auf die Virusvarianten hin überprüft – werden. Bei den PCR-Schnelltests, die deutlich zunehmen, wird in der Regel nicht sequenziert, und einen relevanten Anteil positiver Tests kann man wegen zu hoher CT-Werte – die für eine relativ geringe Viruslast und Ansteckungsgefahr sprechen – auch gar nicht sequenzieren. Die Sequenzierung macht aber auch nicht in jedem Fall Sinn. Wenn wir einen Ausbruch mit sechs Fällen vor uns haben und wissen, dass zwei davon Delta-Fälle sind, können wir davon ausgehen, dass auch die anderen vier Delta-Fälle sind. Die vom Land übernommenen Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) beziehen sich jedoch nur auf Fälle, für die es diese Untersuchung gibt. Deshalb bekommen wir immer wieder Nachmeldungen und hinken mit unseren Zahlen stets etwas hinterher. Aber Delta ist eindeutig die dominierende Variante.

Sie haben es schon gesagt: Seit Dezember haben wir Impfstoffe. Die reduzieren im Falle einer Ansteckung die schweren Verläufe signifikant. Das RKI beziffert den Schutz vor einer Einweisung ins Krankenhaus auf 93 Prozent bei den unter und auf 89 Prozent bei den über 60-Jährigen, den vor einer Behandlung auf der Intensivstation sogar auf 96 und 94 Prozent. Was können Sie über den Anteil schwerer Verläufe im Kreis sagen?

Der Anteil schwerer Verläufe sinkt landesweit und schwere Verläufe bei jungen Leuten unter 20 Jahren sind eine absolute Seltenheit. Für uns maßgeblich ist jetzt aus meiner Sicht die Belastung des Versorgungssystems. Die Strategieanpassung, die die Warnstufen an die Hospitalisierung und Belegung der Intensivstationen bindet, war zielführend und richtig. Strategiewechsel sind kein Zeichen von Schwäche oder Unklarheit, sondern im Gegenteil die Folge besserer Erkenntnisse. Dank der hohen Impfquoten in den Risikogruppen ist die Belegung der Intensivbetten durch Covid-Patienten trotz hoher Infektionszahlen derzeit relativ stabil. Die über 60-Jährigen sind inzwischen zu über 80 Prozent geimpft.

Trotz der hohen Wirksamkeit der Vakzine lässt die Impfbereitschaft generell jedoch zu wünschen übrig. Im Kreis haben sich bis 3. Oktober nach Angaben des Sozialministeriums nur 60,1 Prozent der Bevölkerung vollständig impfen lassen. Wie erklären Sie sich das ?

Wir haben in Baden-Württemberg traditionell einen impfkritischen Personenkreis. Es gibt außerdem weiterhin Menschen, denen die Hürden zu hoch sind. Andere halten es immer noch nicht für wichtig, sich impfen zu lassen, weil sie sich selber nicht als gefährdet sehen. Wirklich hartnäckige Impfgegner dürften nach meiner Schätzung aber kaum mehr als etwa drei Prozent der Bevölkerung sein. Ich erwarte deshalb, dass es einen Personenkreis gibt, den wir noch abholen können. Nach einer neueren Analyse des Landes sind über die Hälfte der Ungeimpften keine Impfverweigerer, sondern zögernde und unentschlossene Personen. Die können wir noch erreichen. Und das sollte man mit niederschwelligen Angeboten auch weiter versuchen.

Worin könnten die bestehen – nach dem Aus von Impfzentren und Impfbussen?

Es bestehen weiterhin 30 mobile Impfteams im Land. Die können dort eingesetzt werden, wo Bedarf besteht. Es gibt weiterhin zum Beispiel Schulen, Betriebe und Einrichtungen, die das anfragen. Die Aufgabe verlagert sich jetzt aber tatsächlich vor allem auf die niedergelassenen Ärzte. Sie können das Vertrauensverhältnis zu ihren Patienten nutzen, um individuell aufzuklären.

Sehen Sie identifizierbare gruppenbezogene Unterschiede hinsichtlich der Impfbereitschaft, etwa was die Altersgruppe oder soziale Umstände angeht?

Sie müssen zunächst bedenken, dass die Impfungen weiterhin für Teile der Bevölkerung noch nicht empfohlen sind, zum Beispiel für die Kinder. Aber auch bei den Zwölf- bis 30-Jährigen sind noch viele sehr zurückhaltend. Die sehen natürlich, dass das Risiko durch die Erkrankung für sie relativ niedrig ist. Wie jeder medizinische Eingriff setzt auch Impfen die Abwägung zwischen potenziellem Nutzen und potenziellem Schaden voraus. Je älter jemand ist, desto eindeutiger schlägt das Pendel in Richtung Nutzen aus. Die Ständige Impfkommission sagt ja, dass der Nutzen schon ab zwölf Jahren deutlich überwiegt. Dieser Effekt erhöht sich mit dem Lebensalter. Wenn aber jemand für sich die Abwägung trifft, dass ihm das Risiko zu erkranken lieber ist als der Piks, dann ist das seine Entscheidung. Das haben wir in anderen Gesundheitsfragen ja auch – und es gehört zu meinem Verständnis unserer freiheitlichen Grundordnung. Es ist zu respektieren, solange das Gesundheitssystem intakt ist und alle adäquat behandelt werden können. Das bevölkerungsmedizinische Ziel ist es ja nicht, der ganzen Menschheit aufzuzwingen, dass sie diesen Virus nicht bekommt. Ich glaube, dass einige sich sogar deswegen gegen die Impfung entschieden haben, weil sie sich nicht drängen lassen wollen. Denen muss man wieder das Gefühl geben: Solange ihr für andere keine Gefahr darstellt, entscheidet ihr das selber und seid frei, auch den aus medizinischer Sicht schlechteren Weg zu wählen. Entscheidend ist, ob wir eine Gefährdung der Gesamtbevölkerung und des Gesundheitssystems abwenden können. Das wissen wir aber noch nicht. Wir können hoffen, dass es ohne weitere massive Eingriffe klappt, müssen aber noch in Habachtstellung bleiben. Deshalb bleiben Impfen und Testen auch unsere entscheidenden Instrumente.

Ein Argument, das Impfunwillige oft anführen: Die Vakzine schützen gar nicht zu 100 Prozent – sondern eben nur in einem hohen Maße. Wie viele Impfdurchbrüche hat es denn im Kreis gegeben?

Wir hatten von 1. Mai bis 3. Oktober insgesamt 556 symptomatische Impfdurchbrüche bei 7778 Neuinfektionen. Das ist ein Anteil von sieben Prozent. Zu 70 Prozent waren die Durchbrüche – unabhängig vom Impfstoff – Delta zuzuschreiben.

Das heißt im Umkehrschluss: 93 Prozent der Neuinfizierten waren nicht geimpft?

Ja.

Einige Verschwörungsideologen haben ja prophezeit, alle Geimpften müssten bis September sterben. Wir beide und Millionen weiterer Geimpfter leben noch…

Ja, es gibt einige Meldungen aus dem Bereich der Mythen, die im Netz kursieren. Ich kenne auch mehrere Frauen, die kurz nach der Impfung schwanger geworden sind. Die Impfung ist eindeutig keine verlässliche Verhütungsmethode (lacht). Die Behauptung, die Impfung beeinträchtige die Fruchtbarkeit, ist durch mehrere Studien widerlegt.

Trotzdem kann die Impfung ja auch schwere Nebenwirkungen haben, neben rund 94000 Corona-Toten hat es in Deutschland bisher offenbar 48 Todesfälle gegeben, die zumindest in einem zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung standen. Hat es Todesfälle und Fälle schwerster Nebenwirkungen auch im Kreis gegeben?

Bisher kenne ich keinen solchen Fall im Kreis. Aber es laufen auch nicht alle Verdachtsfälle zu Impfkomplikationen über uns, viele erfasst direkt das Paul-Ehrlich-Institut, das die Sicherheit von Impfstoffen überwacht. Sein aktueller Sicherheitsbericht registriert eine Melderate von 1,5 Verdachtsfällen pro 1000 Impfdosen und von 0,15 Meldungen pro 1000 Dosen für schwerwiegende Reaktionen. Die problematischste impfassoziierte Erkrankung bei jungen Menschen waren – in der Regel gut behandelbare – Herzmuskelentzündungen bei den mRNA-Impfstoffen und die Hirnvenenthrombosen bei Astrazeneca. Dabei ist aber zu sagen, dass ein zeitlicher Zusammenhang nicht zwingend auch ein kausaler Zusammenhang ist. Das Risiko einer Herzmuskelentzündung durch Covid ist höher als das durch die Impfung. Wäre es anders, würde das Paul-Ehrlich-Institut natürlich reagieren. Weltweit wurden mittlerweile ja Milliarden Dosen verimpft. Und der Nutzen überwiegt den Schaden deutlich.

Könnte es heute noch gar nicht absehbare Spätfolgen der Impfungen geben – vergleichbar etwa Post-Covid nach einer vermeintlichen Genesung oder einer zunächst asymptomatischen Infektion?

Das ist zumindest extrem unwahrscheinlich. Ich wüsste nicht, wie das funktionieren soll. Wenn es Komplikationen gibt, werden diese in aller Regel in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung auftreten, können dann aber natürlich ihrerseits Spätfolgen haben. Wenn zum Beispiel eine Herzmuskelentzündung nicht rechtzeitig oder nicht erfolgreich behandelt wird, kann eine lebenslange Herzschwäche die Folge sein.

Wesentliche Einschränkungen im öffentlichen Leben sind seit Ende der Sommerferien entfallen, die Schulen haben wieder vollen Präsenzunterricht. Gab es seither Ausbrüche an Schulen oder Kitas im Kreis?

Wir haben nach wie vor Ausbrüche, auch in Schulen. Seit den Sommerferien waren das vier Ausbrüche mit jeweils fünf Schülern. Das sind weiterhin relativ kleine Ausbrüche. Allerdings dürfte die Dunkelziffer durch die veränderten Quarantäneregeln steigen.

Wie sieht es mit Großveranstaltungen in Hallen aus, etwa nach dem Saisonauftakt der MHP-Riesen in Ludwigsburg oder der Steelers in Bietigheim?

Wir haben aktuell keine Hinweise auf Ausbrüche im Zusammenhang mit größeren Sportveranstaltungen im Landkreis Ludwigsburg.

Wir müssten mit dem Virus leben lernen, heißt es immer wieder. Viele Virologen übersetzen das mit der Alternative: sich impfen lassen oder angesteckt werden. Für die Virologin Isabella Eckerle etwa muss die 3G-Regel in Zukunft so ausbuchstabiert werden: (gegen Covid) geimpft, (von Covid) genesen oder (an Covid) gestorben.

Man muss letzten Endes einfach sagen: Wer sich nicht impfen lässt, kriegt früher oder später Corona. Aber natürlich gibt es unter den Infizierten einen hohen Anteil von Menschen, die nicht schwer erkranken. Das Besondere an Corona im Vergleich zu anderen Infektionen ist ja, dass es ein neues Virus war, an dem sehr schnell sehr viele Menschen erkrankten, weshalb unser Gesundheitssystem gefährdet war. Wir waren zweimal hart an der Grenze zum Kollaps, haben den Zusammenbruch aber verhindern können – anders als das zum Beispiel in Bergamo oder Brasilien der Fall war.

Unsere Kinder sind im Moment noch nicht geimpft. Was heißt die Aussicht, dass Ungeimpfte sich irgendwann anstecken werden, für deren Schutz? Wir wissen, dass Kinder glücklicherweise meistens keine schweren Verläufe haben. Aber wie hoch ist deren Risiko beispielsweise für Long-Covid? Können Sie die Eltern da beruhigen?

Leider nicht komplett. Es gibt auch Meldungen von Long-Covid im Kindesalter. Allerdings ist die Definition dieses Krankheitsbildes noch unscharf. Gerade Kinder können schon durch die für sie besonders harten Beeinträchtigungen der letzten Monate und die Quarantänebedingungen so stark belastet sein, dass bestimmte Erscheinungen auch darauf zurückzuführen sein könnten. Ich rechne damit, dass über kurz oder lang auch Kinder geimpft werden können.