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Reaktionen auf den AfD-erfolg
Unbehagen an der Moderne als Erklärung

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Migration, Islam, Sicherheit: Die Themen des AfD-Wahlkampfs waren überschaubar. Fotos: Holm Wolschendorf, Armin Weigel/dpa
„Schrecklich“, „besorgniserregend, schwer nachvollziehbar“. Egal, ob man Traute Theurer (Grüne), Manfred Hollenbach (CDU) oder Volker Godel (FDP) fragt – der erneute Wahlerfolg der AfD hat die anderen Parteien im Kreis kalt erwischt. Wichtigster Erklärungsansatz: Die AfD habe mit der Angst vieler Leute gespielt – und sie mit den Themen Flüchtlinge, Migration und Sicherheit auch „emotional erwischt“, wie es Bietigheim-Bissingens Alt-OB Manfred List (CDU) formuliert.

Kreis Ludwigsburg. „Das Potenzial der Unzufriedenen hat ein Sammelbecken gefunden“, sagt Traute Theurer. Die Grünen-Fraktionschefin im Bietigheim-Bissinger Gemeinderat registriert nicht erst jetzt einen Verfall der politischen Debatte: Bereits im Streit um die vor Ort geplante Biomüllvergärungsanlage seien ihr Pöbeleien, Beschimpfungen, Stammtischparolen und rechtsradikale Sprüche aufgefallen, die so aber erst seit einiger Zeit zu hören seien. Die AfD biete keine Inhalte, sondern setze stattdessen gezielt auf Grenzübertretungen, meint auch der Ludwigsburger FDP-Stadt- und Kreisrat Johann Heer. Und der Murrer Altbürgermeister Manfred Hollenbach, Ex-Landtagsabgeordneter und CDU-Fraktionschef im Ludwigsburger Kreistag, konstatiert, die AfD arbeite mit Ängsten, ohne Lösungen anzubieten.

Wenn dem so ist: Warum kommen die Rechtsausleger, die auch in ihrem ersten Jahr im Landtag vor allem durch inneren Zwist und Tabubrüche auffielen, damit durch? Kai Buschmann, Chef der FDP-Regionalfraktion aus Remseck, hat im Wahlkampf gespürt, dass viele AfD-Anhänger „argumentativ nicht mehr zu erreichen“ seien. „Wer AfD wählt, erwartet kein Konzept für Bildung und Renten“, glaubt auch der Ludwigsburger Sozialdemokrat Claus Schmiedel, als ehemaliger SPD-Fraktionschef im Landtag ein politisches Opfer des Aufstiegs der AfD. Stattdessen spreche die AfD „die Gefrusteten an. Und Frust hat eine breite Basis“.

Dieser Umstand müsste eigentlich überraschen in einem Landkreis, dessen Bevölkerung zum weitaus größten Teil der Meinung ist, dass es ihr gut gehe. Doch das Unbehagen an der Moderne, das für die meisten Politiker der anderen Parteien vor Ort das Lebensgefühl von AfD-Anhängern bestimmt, sei eben „kein materielles, sondern ein psychologisches Problem“, meint der Asperger Grünen-Landtagsabgeordnete Jürgen Walter: „Wenn Menschen in bayrischer Tracht auf den Cannstatter Wasen gehen, zeigt das ein Bedürfnis nach Identität.“

Deshalb habe die AfD beim Thema Flucht und Migration so erfolgreich auf der Klaviatur der Angst spielen können: „Mit den Flüchtlingen klopft die von vielen gefürchtete Globalisierung an die Haustür“, sagt Walter. Claus Schmiedel sieht das genauso: „Die Befürchtungen hinsichtlich der Zuwanderung sind nicht in erster Linie materiell, sondern kulturell, sagt er. Deshalb sei die Flüchtlingskrise „eine absolute Bluttransfusion für die AfD gewesen“, meint Sebastian Haag, der Ortsvorsitzende der Ludwigsburger Freidemokraten.

Der Erfolg der Rechtspopulisten speise sich aber nicht nur aus der Klientel der Wechsel- und Protestwähler, konstatiert Volker Godel, Freidemokrat und Schultes von Ingersheim: Es gebe eben auch „einen rechten Bodensatz“, der bei der AfD in dem Maße Zuflucht suche, in dem er in der Union heimatlos geworden sei. Es sei ja altbekannt, sagt auch Jürgen Kessing, OB von Bietigheim-Bissingen und Fraktionschef der Sozialdemokraten im Kreistag, dass es „ein Potenzial von 15 Prozent rechter Wähler“ gibt – und das, glaubt Jürgen Walter, finde bei der AfD eben auch deshalb ein Auffangbecken, weil der Union „der Dregger-Flügel abhanden gekommen“ sei.

Klaus Hoffmann, der Ex-Stadtrat und Ehrenvorsitzende der Ludwigsburger Grünen, betrachtet die Entwicklung mit Sorge: Er habe sich am Sonntag mit einem Bekannten im mittleren Alter unterhalten, der ihm erzählt habe, dass er soeben „deutsch gewählt“ habe. „Ich war Pimpf in der HJ, mich deprimiert das sehr“, sagt der 82-Jährige. Hoffmann glaubt, dass es neben allgemeiner Unzufriedenheit und rechter Ideologie einen weiteren Grund für die Erfolge der AfD gibt: einen allgemeinen Niedergang der politischen Bildung.

Wolfgang Minnich aus Korntal-Münchingen, der Sprecher des rund 150 Mitglieder starken Kreisverbandes der AfD, nennt ganz andere Gründe für den Erfolg seiner Partei: Das Thema Migration spiele sicher eine Rolle, die dürfe aber nicht überschätzt werden, sagt er: „Viel wichtiger war das Thema soziale Sicherheit“, das viele AfD-Anhänger bei der SPD nicht mehr gut aufgehoben sähen. Minnich spricht von den niedrigen Zinsen, die die Ersparnisse der kleinen Leute auffräßen, erzählt, dass auch die Euro-Rettung und die Bankenkrise für viele AfD-Wähler weiterhin ein bestimmendes Wahlmotiv seien. Und er verbindet die soziale Frage dann doch selbst flugs und ohne Scheu vor Ressentiments mit der Migration. Wenn kinderreiche Familien Schwierigkeiten hätten, bezahlbare Wohnungen zu finden, sagt er, und dann beobachten müssten, dass man für Flüchtlinge aus Steuermitteln neue Unterkünfte baue, dann bringe das die Leute eben auf die Palme – erst recht, wenn die Unterkünfte dann nach wenigen Monaten… „Na“, sagt Minnich dann am Telefon, „Sie könne sich das Wort ja denken“. Kurze Pause. „Verwohnt sind“, ergänzt er auf die Bitte hin, den Satz doch selbst zu beenden.

Minnich betont von sich aus ausdrücklich, dass der Kreisverband „keine Nazis und keine Hetzer“ aufnehme – alle Neumitglieder würden gewissenhaft überprüft. Die Bundestagswahl hat der AfD in den Wahlkreisen Ludwigsburg und Neckar-Zaber nämlich nicht nur rund 44 000 Wähler beschert, sondern dem Kreisverband auch neue Mitglieder. Rund 20 Aufnahmeanträge, sagt Minnich, hätten wegen des Wahlkampfs noch nicht bearbeitet werden können.

 

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