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Eine Pädagogin voller Widersprüche

Brigitte Kiesel, Heidi Paret, Ruth Schwarz, Heidi Grees und Eva Usenbenz (v.l.) bei der Gedenkveranstaltung. Foto: Holm Wolschendorf
Brigitte Kiesel, Heidi Paret, Ruth Schwarz, Heidi Grees und Eva Usenbenz (v.l.) bei der Gedenkveranstaltung. Foto: Holm Wolschendorf
Das Goethe-Gymnasium gedenkt seiner früheren Lehrerin Jenny Heymann, der als Jüdin 1939 die Flucht nach England gelang

Es ist in mancher Hinsicht ein historisches Kaffeekränzchen, zu dem das Goethe-Gymnasium am Donnerstagabend geladen hat. Frühere Schülerinnen erinnern sich gemeinsam mit Moderator Alfred Hagemann von der Stuttgarter Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit an Jenny Heymann, die nach dem Zweiten Weltkrieg an dem Ludwigsburger Gymnasium unterrichtete. An der Kaffeetafel im Musiksaal sitzt auch die ehemalige Lehrerin Apollonia Löffler. Sie leitete einst Austauschreisen an die britische Partnerschule, die North London Collegiate School.

Jenny Heymann hatte schon vor 1933 unterrichtet. Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, verboten die NS-Behörden der 1890 in Stuttgart geborenen Jüdin, in ihrem erlernten Beruf als Lehrerin zu arbeiten. Bis 1939 arbeitete sie in einem jüdischen Landschulheim in Herrlingen bei Ulm. Als der NS-Staat diese Einrichtung schloss, konnte Heymann nach England fliehen. Obwohl sie verfolgt worden war, kehrte sie nach Kriegsende in ihre Heimat zurück. In der jungen Bundesrepublik konnte sie noch bis 1955 als Lehrerin wirken. Auch nach ihrer Pensionierung gab sie noch Privatunterricht, übernahm zudem einen Unterrichtsauftrag in einem katholischen Gymnasium.

Ein pädagogisches Ausrufezeichen hatte sie bereits gesetzt, als sie 1949 den Schüleraustausch zwischen dem Goethe-Gymnasium und der North London Collegiate School ins Leben rief. 70 Jahre später erinnern sich die Zeitzeugen nun bei Kaffee und Kuchen an die ersten Reisen in das London der unmittelbaren Nachkriegszeit Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre.

Für die Schülerinnen war es in aller Regel die erste Auslandsreise, und die war beschwerlich: 25 bis 30 Stunden im Bus, mehrmaliges Umsteigen, die Überfahrt auf der Fähre. In London angekommen, waren die schwäbischen Gäste beeindruckt von den Dimensionen der britischen Weltstadt.

Die Metro, überall Doppeldeckerbusse. Menschen, die geordnet in Schlangen standen, ohne sich vorzudrängeln. Die englischen Schüler trugen feine Schuluniformen. Und um fünf Uhr war Teezeit, jeden Tag. Sandwich mit Gurken inklusive, erinnert sich Ruth Schwarz, die 1949 in England war. „Zu Hause gab’s nur Muckefuck.“

Auch die prächtige Anlage der Londoner Schule beeindruckte. Die heimische Schule sei ziemlich baufällig gewesen, meint Schwarz. Ganz anders dagegen die britische Partnerschule. Zu dem Komplex gehören Tennisplätze, Grünanlagen, sogar ein Schloss. Die Schüler haben reiche Eltern, nicht selten gehören sie Diplomatenfamilien an. In asiatischen Ländern wirbt das Haus mit eigenen Niederlassungen um betuchte Schüler. Der Austausch sei mehr oder weniger eingeschlafen, bedauert Schulleiter Wolfgang Medinger. Schüler an Londoner Eliteschulen lernten heutzutage eher Mandarin als Deutsch oder Französisch. Am Goethe-Gymnasium werde eine Wiederbelebung aber keinesfalls scheitern, versichert Medinger.

Jenny Heymanns Lehrtätigkeit am Goethe-Gymnasium gibt in gewisser Weise Rätsel auf. Heidi Grees beispielsweise ist sie als faire, eher zurückhaltende, aber auch menschenfreundliche Lehrerin in Erinnerung geblieben. Heymann habe den Unterricht gut geleitet, sei nicht ein einziges Mal laut geworden. „Es war absolut nicht ihre Art, Szenen zu machen.“

Die Atmosphäre im Klassenverband sei gut gewesen. Umso schwerer nachvollziehen konnte Grees deshalb eine Passage aus einem von Heymanns Briefen, der wie andere Briefe als Teil ihres Nachlasses im Stadtarchiv gelagert wird. Die Lehrerin schreibt darin, dass sie sich in der betreffenden Klasse immer fremd gefühlt habe. „Das hat mich schon sehr erstaunt“, meint Grees, die Aussage stehe im Gegensatz zum erlebten Alltag.

Für ihn sei Jenny Heymann immer noch eine Art Rätsel, sagt Moderator Hagemann und weist auf eine weitere Widersprüchlichkeit hin. Die 1996 in Stuttgart gestorbene Pädagogin habe stets eher in zweiter oder dritter Reihe gewirkt. „Sie hielt sich zurück, sie schwieg – und fast 100 Jahre später ist sie zu einer öffentlichen Person geworden.“