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Gesellschaft
Immer mehr Kirchenaustritte in Ludwigsburg: Auch Missbrauchsfälle sind ein Grund

Eine Auswirkung der steigenden Kirchenaustritte: Die Bänke in den Gotteshäusern bleiben häufig leer. Foto: Jens Schulze/dpa
Eine Auswirkung der steigenden Kirchenaustritte: Die Bänke in den Gotteshäusern bleiben häufig leer. Foto: Jens Schulze/dpa
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Nicht nur die katholische, sondern auch die evangelische Kirche hat mit den Missbrauchsskandalen zu kämpfen: Denn immer mehr Ludwigsburger entscheiden sich, aus der Kirche auszutreten. Die Gemeinden möchten mit diesen Menschen ins Gespräch kommen.

Ludwigsburg. Es ist nicht erst ein Phänomen der vergangenen Monate. Schon seit Jahren wenden immer mehr Menschen den Kirchen den Rücken zu. „Die Tendenz der Kirchenaustritte ist steigend“, heißt es aus dem Ludwigsburger Standesamt, wo die Kirchenaustritte beantragt werden. In Ludwigsburg waren es 2017 noch 477Austritte, im Jahr 2021 lag die Zahl bei 795. Lediglich im Jahr 2020 gibt es einen Einbruch der Zahlen. Diesen erklärt ein Sprecher der Stadtverwaltung mit dem personellen Engpass im Standesamt in diesem Jahr. Es habe 2020 mehr Anfragen gegeben, als das Standesamt bearbeiten konnte. Inzwischen komme man aber wieder nach, so der Sprecher, man sei auf dem Laufenden, was die Austritte anbelangt. Seit Jahresbeginn 2022 hat das Standesamt 44 Austritte aus der evangelischen und 46 aus der katholischen Kirche verzeichnet. Die Anzahl der Austritte aus den beiden Kirchen halte sich in jedem Jahr die Waage, so der Sprecher.

„Negative Schlagzeilen führen grundsätzlich zu einer Austrittswelle“

„Es ist eine Zahl an Austritten, die uns schmerzt“, sagt Michael Werner, Dekan des evangelischen Kirchenbezirks Ludwigsburg. Wenn Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche bekanntwerden, sehe sich auch die evangelische Kirche mit Austritten konfrontiert. Das bestätigte auch der Sprecher der Stadt: „Negative Schlagzeilen führen grundsätzlich zu einer Austrittswelle.“ Er verstehe es nicht, so der katholische Dekan Alexander König, warum die Menschen auch der evangelischen Kirche den Rücken zukehren, wenn Skandale in der katholischen Kirche aufgedeckt werden. „Wir bitten die Christen beider Konfessionen, lieber das Gespräch zu suchen“, so König.

Lesen Sie hier: Dekan Michael Werners Kommentar über die Freiheit im Christentum

Um mit den Menschen, die über einen Austritt nachdenken oder bereits ausgetreten sind, ins Gespräch zu kommen, hat die evangelische Kirche nun einen offenen Brief formuliert. Der Brief sei in Remseck als ökumenischer Brief entstanden. „Er war so authentisch, deshalb wollten wir ihn im Kirchenbezirk übernehmen“, so Werner. Es sei wichtig, dass sich eine Kirche nicht auf Kosten einer anderen profiliere, sagt er. Es gehe um Ökumene, darum, zusammenzustehen.

Auch andere Kirchen unterstützen den offenen Brief

Neben Werner selbst haben die meisten evangelischen Kirchengemeinden des Bezirks den Brief unterschrieben, außerdem der Vorstand der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Ludwigsburg, die neuapostolische Kirche Ludwigsburg, die evangelisch-methodistische Kirche in Ludwigsburg, Diözesanrätin Gabriele Pennekamp (Vorsitzende der katholischen Erwachsenenbildung), Schuldekan Andreas Löw, die Vorsitzende der Bezirkssynode Julia Görner und die Vorsitzende der Gesamtkirchengemeinde Ludwigsburg, Dr. Margret Rössle. Das katholische Dekanatamt trägt den offenen Brief mit und hat ihn aus seiner Sicht noch ergänzt.

Bei wie vielen Austritten tatsächlich Missbrauchskandale der Grund sind, können Alexander König und Michael Werner nicht sagen. Den Grund für den Kirchenaustritt erfahren die Gemeinden nur in Ausnahmefällen. Für Michael Werner gibt es sowieso nicht den einen Grund. „Der Austritt steht am Ende eines Prozesses“, sagt er.

Grund für Austritte ist häufig die fehlende innere Bindung zur Kirche

Die Kirchensteuer, Missbrauchsfälle oder Enttäuschung in Einzelfällen seien Anlässe, Tropfen, die das Fass schließlich zum Überlaufen bringen. Dahinter stehe eine fehlende innere Bindung zur Kirche. „Für viele spielt der Gottesglaube im eigenen Leben keine Rolle, andere glauben und brauchen dazu keine verfasste Glaubensgemeinschaft“, sagt auch Alexander König.

Beide Dekane rufen zu Gesprächen auf. Bei diesen könnte der Grund für den Austritt besprochen werden. „Und wir wollen auch signalisieren, dass unsere Türen weiterhin offen stehen“, so Michael Werner. Solche Gespräche könnten auf verschiedenen Wegen geführt werden, ergänzt Alexander König. Seelsorger in den Kirchengemeinden stünden immer für Gespräche zur Verfügung, aber auch die Kontaktaufnahme zur Kirche per E-Mail oder telefonisch sei möglich.

Um Austritten entgegen zu wirken, ist Transparenz wichtig

Um der großen Zahl der Austritte entgegenzuwirken, müsse Kirche eindeutig Position beziehen und für das Leben in der Gesellschaft relevant sein, so König: gegen jede Form von Diskriminierung eintreten, für Gleichberechtigung voranschreiten, den Schwachen eine Stimme geben, zum Wohl der Menschen und der Natur neue Lebensmodelle vorleben, Menschen in Seenot retten und Mächtige in Krisengebieten zum Frieden mahnen. „Und Kirche muss bei allen Themen, die uns in der Welt gerade sehr umtreiben, auch die Perspektive ins Spiel bringen, dass es ein Leben bei Gott gibt und dass die Menschen für immer in Gott geborgen sind“, so der katholische Dekan.

Für Michael Werner spielt die Transparenz eine große Rolle. „Wir müssen besser zeigen, was mit der Kirchensteuer passiert und was wir tun“, sagt er. Es gehe in der evangelischen Kirche schon länger um die Frage, wie man näher bei den Menschen sein könnte. Dafür gebe es jedoch kein Gemeinrezept. „Da erlebe ich in jeder Gemeinde neue Formen.“

Offener Brief der Kirchen im Wortlaut: „Wir müssen reden.“

Wieder einmal ist ein Gutachten zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche (im Erzbistum München) Gesprächsthema und Aufreger in allen Medien. Auch in unseren Gemeinden treten Menschen enttäuscht oder wütend aus der Kirche aus. „Die“ Kirche steht auf der Anklagebank. Auch Austritte aus der evangelischen Kirche werden immer wieder mit den Missbrauchsskandalen begründet. Darüber müssen wir reden!

Kirche muss ein geschützter Ort sein, darum muss Missbrauch bei der katholischen und evangelischen Kirche umso entschiedener aufgeklärt werden. Auch wenn die evangelische Kirche und protestantische Freikirchen eine andere Sexualmoral, kein Zölibat und andere hierarchische Strukturen haben, müssen wir ebenfalls hoch sensibel damit umgehen und alles daransetzen, dass Missbrauch bei uns keine Chance hat.

Unser Mitgefühl ist bei den Opfern. Absolutes Unverständnis haben wir für die Täter und die Vertuscher, die nicht mit einem ego te absolvo, ich spreche dich frei (von deinen Sünden), davonkommen dürfen.

Aber diese Täter sind nicht „die Kirche“! Dennoch werfen ihre Taten Schatten auf die gesamte kirchliche Welt. Doch in unseren Kirchengemeinden, evangelisch, katholisch oder freikirchlich, geschieht auch so viel Gutes: Diakonie, Jugendarbeit, Seelsorge und Lebensbegleitung, ermutigende Gottesdienste, Engagement für Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung und so vieles mehr. Wir verurteilen deshalb den Missbrauch, der unter dem Deckmantel der Kirche begangen wurde. Er legt sich lähmend und zersetzend über die gute Arbeit unzähliger ehren- und hauptamtlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Wir verstehen die Wut derer, die sich über diese Skandale, die unzureichende Aufklärung und Vertuschung ärgern. Wir teilen ihre Wut und ihren Ärger – aber wir bitten Sie, bevor Sie aus der Kirche austreten, reden Sie mit uns! Mit jedem Austritt treffen Sie auch all die, die sich mit großem Engagement und tiefem Glauben für die Kirche, für die Gute Nachricht, für die Nächstenliebe einsetzen.

Katholische Kirche unterstützt den offenen Brief

Auch das katholische Dekanatamt unterstützt den offenen Brief der evangelischen Gemeinden und fügt hinzu: In ökumenischer Verbundenheit gestalten wir im Landkreis Ludwigsburg vielfältige Angebote und lebendiges kirchliches Leben. Wir stehen dafür, dass Menschen in einem geschützten Raum Seelsorge und Lebensbegleitung finden und sich in unterschiedlichen Feldern gemeinsam mit anderen engagieren können.

Die katholische Kirche im Landkreis Ludwigsburg fordert klare Schritte der Aufklärung und Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch auf allen Ebenen. Dazu gehören auch strukturelle Veränderungen in der katholischen Kirche, die Missbrauch und dessen Vertuschung in der Vergangenheit begünstigt haben.

Wir können verstehen, wenn sich in der aktuellen Situation Menschen für einen Austritt aus der katholischen Kirche entscheiden. Auch wir laden alle, die sich mit einem Austritt beschäftigen, zum Gespräch ein.