1. Startseite
  2. Lokales
  3. Stadt Ludwigsburg
Logo

Naturschutz
Vogelschutz vs Landschaftsschutz: Streit um die Zukunft der Zugwiesen

350_0900_36572_19_10_2021Theiss_38.jpg
Günter Schlecht, Leiter der Abteilung Grünflächen, zeigt auf einem Plan, dass die Stadt sich an die Vorgaben für das Biotop hält (oben rechts)
Günter Schlecht, Leiter der Abteilung Grünflächen, zeigt auf einem Plan, dass die Stadt sich an die Vorgaben für das Biotop hält (oben rechts)
Die Diskussion dreht sich vor allem darum, dass die Natur mittlerweile alles zuwuchert. Fotos: Ramona Theiss
Die Diskussion dreht sich vor allem darum, dass die Natur mittlerweile alles zuwuchert. Foto: Ramona Theiss
Die Ornithologen (unten rechts) Rainer Ertel (rechts) und Claus König bedauern, dass die Zugwiesen für viele seltene Wasservögel nicht mehr interessant sind.
Die Ornithologen (unten rechts) Rainer Ertel (rechts) und Claus König bedauern, dass die Zugwiesen für viele seltene Wasservögel nicht mehr interessant sind. Foto: Ramona Theiss
Vogelschutz oder Landschaftsschutz – was soll an den Zugwiesen im Vordergrund stehen? Zwischen Vogelexperten und Stadtverwaltung gehen die Meinungen auseinander. Schuld an dem Konflikt ist auch der Zustand des Neckars.

Ludwigsburg. Die Liste wird immer länger: Wasseramsel, Stelzenläufer, Sichelstrandläufer oder Grünschenkel sind nur einige der Namen von Vögeln, die der Vogelkundler Dr. Rainer Ertel schon lange nicht mehr an den Zugwiesen gesehen hat. Vor kurzem hat er die Broschüre „In memoriam, Vögel der Zugwiesen“ rausgebracht. Darin stellt er einen Teil der Vögel vor, die nicht mehr an den Zugwiesen nachweisbar sind. Warum Vögel, die freie Uferflächen sowie sumpfigen oder schlammigen Untergrund mögen, nicht mehr an die Zugwiesen kommen, liegt für Ertel auf der Hand: Das Neckarbiotop sei in den knapp zehn Jahren seiner Existenz zugewuchert. Schuld daran seien vor allem die 7000 Stecklinge, die zur Eröffnung gepflanzt wurden.

Ein Auwald oder ein freier Blick?

Unterstützung erhält der Remsecker Ornithologe Ertel von seinem Ludwigsburger Kollegen, Dr. Claus König. „Die Uferbereiche sind richtig zugewachsen. Dadurch ist die Zahl der Vögel enorm zurückgegangen“, sagt König. Laut den beiden Experten ist das Gebiet für Vogelkundler mittlerweile uninteressant. „Bis zum vergangenen Sommer haben gut 20 engagierte und kenntnisreiche Hobby-Ornithologen das Gebiet regelmäßig besucht und dabei ornithologische Daten gesammelt. Seit knapp drei Monaten hat das zu 90 Prozent aufgehört.“

Kann man diese Entwicklung rückgängig machen und ist das überhaupt erwünscht? Um diese Frage ging es vor wenigen Tagen bei einem Vor-Ort-Treffen mit Naturschützern, Vogelexperten und der Stadtverwaltung. Derlei Begegnungen, bei denen besprochen wird, wo Büsche und Schilf entfernt werden sollen, hat es in den vergangenen Jahren immer wieder gegeben, erzählt Günter Schlecht, Leiter der Abteilung Grünflächen bei der Stadt.

Laut Schlecht existiert für die Zugwiesen ein detaillierter Pflegeplan. Außerdem sei genau festgelegt, wie groß der Anteil von Grünland, Auwäldern und Hecken sowie Wasserflächen in den Zugwiesen sein soll. Die Stadt halte sich an diesen Plan. Hecken würden regelmäßig völlig zurückgeschnitten.

Viele Wasservögel fehlen mittlerweile

Nicht genug, finden Ertel und König. „Das Buschwerk ist mittlerweile so dicht, dass viele Vogelarten nicht mehr kommen.“ Dass es dichter wird und mit der Zeit ein Auwald entsteht, sei von Anfang an aber geplant gewesen, sagt Schlecht. „Für Schlick- oder Kiesflächen bräuchten wir die Dynamik des Neckars oder Bagger“, sagt er.

Damit spricht Schlecht ein grundsätzliches Problem an. Mit dem keltischen Ursprung seines Namens, der so viel wie heftiger, böser oder schneller Fluss bedeutet, hat der als Wasserstraße genutzte Neckar heute nichts mehr zu tun. Daran hat auch das Biotop Zugwiesen nichts geändert. Bevor der Fluss begradigt und in sein steinernes Bett gelegt wurde, hatte der Neckar tatsächlich die Kraft – etwa durch Hochwasser oder Stromschnellen –, Uferareale immer wieder abzuräumen und damit karge Schlick- oder Kiesflächen als Lebensraum für Vögel anzubieten.

Diese Dynamik, so Schlecht, kann man heute nur durch viel Aufwand, viel Geld und viel Arbeit künstlich herstellen. Oder anders gesagt: „Man müsste jedes Jahr die Natur zerstören“, weil alles in null Komma nix zuwuchert.

Beim Rundgang durchs Gelände, bei dem auch Vertreter des Ludwigsburger Naturschutzbunds (Nabu) dabei sind, geht es um jedes Detail. An mehreren Stellen sollen die Büsche und Bäume in den nächsten Wochen stark zurückgeschnitten werden. Diese Arbeit übernehmen überwiegend die Bauern, die die umliegenden Felder bewirtschaften. In dem einen oder anderen Bereich soll der Bagger zum Einsatz kommen und Freiräume schaffen. Bei der Feinarbeit in den Uferzonen hilft der Nabu. Vielleicht kann an manchen Stellen so wieder eine sumpfige und offene Uferzone entstehen.

Dass die Zugwiesen wieder in die karge Landschaft der ersten Monate zurückverwandelt werden, glauben Ertel und König aber selbst nicht. „Viele Naturfreunde finden es toll, wie es derzeit ist“, sagt Ertel. Seiner Meinung nach könnte man die Dinge aber kombinieren: üppige, wuchernde Auwälder an den einen und vogelgerechte Zonen – mit ganz wenig Vegetation – an anderen Stellen. „Der Naturschutz muss sich darum bemühen, selten gewordene Arten zu beschützen.“ Das heißt: Auch Wasservögel sollten in den Augen der Ornithologen an den Zugwiesen eine Chance bekommen.

Die Stadt bleibt skeptisch. Zwar sei in jüngster Vergangenheit tatsächlich etwas zu viel Grün stehen geblieben – diesen Winter will man daher etwas mehr rausnehmen –, Günter Schlecht macht aber klar: „Die Zugwiesen sind nicht als Vogelschutzgebiet geplant worden, sondern dafür, die Natur dem Menschen näher zu bringen.“