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Staatsmacht, Gewalt und Gesetz

Ist die Ermordung eines Diktators moralisch und rechtlich zu rechtfertigen? Das ist die Kernfrage in „Pikass“.Foto: Ramona Theiss
Ist die Ermordung eines Diktators moralisch und rechtlich zu rechtfertigen? Das ist die Kernfrage in „Pikass“. Foto: Ramona Theiss
Es ist nicht eben leichte Kost, was die „coronakonforme“ Theatergruppe am Helene-Lange-Gymnasium da gerade einstudiert. „Pikass“ befasst sich mit der Frage, ob und unter welchen Umständen ein Tyrannenmord zu rechtfertigen ist und wie er gesühnt werden kann.

markgröningen. Das Bühnenstück stammt aus der Feder von Julius Marx. Einem Juden, 1888 in Freudental geboren, wo er bis 1901 lebte. Er riskierte sein Leben im Ersten Weltkrieg für „Kaiser, Reich und Vaterland“. Mit 30 Jahren beendete eine schwere Verwundung die militärische Karriere eines Mannes, der sich als einfacher Soldat zum Leutnant hochdiente.

Er wurde stattdessen erfolgreicher Unternehmer und fertigte in Stuttgart mit mehreren Hundert Mitarbeitern Autoteile. Marx war damals ein ernsthafter Konkurrent von Bosch. Bereits 1935 wurde seine Firma „arisiert“, sprich von den Nazis enteignet. Julius Marx emigrierte daraufhin in die Schweiz. Wegen seiner Kontakte nach Deutschland spionierte er für den britischen Geheimdienst und unterstützte geflüchtete Schriftsteller.

Als desillusionierter Patriot schrieb er sich 1942 mit „Pikass“ seine tiefe Enttäuschung von der Seele. In dem Drama ringt er mit der Frage, ob die Ermordung eines Diktators moralisch zu rechtfertigen sei, und wenn, wie er strafrechtlich verfolgt werden müsse. Zwei Schauplätze also: eine Gruppe Verschwörer unter dem Deckmantel einer Zirkustruppe und der Gerichtssaal. Und jeden Protagonisten plagen Gewissensbisse. Es stellen sich Fragen wie: Braucht Staatsmacht Gewalt und wie viel? Welches Recht wird gesprochen? Das der Paragrafen oder das der Vernunft?

Der pädagogische Leiter des Pädagogisch-Kulturellen Centrums Freudental (PKC), Michael Volz, stolperte in einer Biografie über Julius Marx über eine unscheinbare Fußnote. Darin war die Rede von „Pikass“ einem bislang unveröffentlichten Bühnenstück. Nach kurzer Recherche in Berlin wurde er im eigenen Archiv fündig. „Allerdings war es so gut wie nicht aufführbar“, urteilt er. Das Original sei geprägt von schier endlosen inneren Monologen und eine Inszenierung danach hätte wenigstens drei Stunden gedauert.

Zu viel für ein Schülertheater. Also dampfte Volz die Inhalte mächtig ein. Und auch der neue Abteilungsleiter für die musischen Fächer am Helene-Lange-Gymnasium, Steffen Keim, setzte nochmals den Rotstift an. Die komplett überarbeitete Fassung dauert jetzt nur noch eine Stunde und orientiert sich mehr an der Handlung, ohne diese substanzielle, innere Zerrissenheit aller Seiten zu vernachlässigen.

Das Stück hätte eigentlich bereits im Juli im PKC Premiere gehabt. Sie fiel dem Coronavirus zum Opfer. „Die Inszenierungsidee stand bereits und uns lag der Stoff am Herzen“, erklärt Steffen Keim den neuerlichen Anlauf. Allerdings unter neuen Bedingungen: Statt einer jahrgangsübergreifenden Theater-AG nahmen sich nur die beiden elften Klassen des Themas an.

In vier Gruppen wurden die 50 Schüler aufgeteilt: Corinna Liebler wird die musikalische Umrahmung mit den Jugendlichen entwickeln und einstudieren, Nathalie Schuppe macht sich gemeinsam auf die Suche nach passenden Kostümen, Requisiten und wird die Bühnenbilder gestalten. Doreen Rebmann leitet die Abteilung Dramaturgie, wo insbesondere auf die historische Stimmigkeit geachtet wird, und Steffen Keim macht die Arbeit mit den Schauspielern. Alle durchlaufen alle Stationen und entscheiden sich bis zu den Weihnachtsferien für ihr Fach, das dann weiter intensiviert wird. Wichtig ist den Lehrkräften, dass sie den Schülern bei der Inszenierung möglichst viele Freiräume lassen, sich selbst intensiv mit dem Thema auseinandersetzen, miteinander diskutieren.

Christina strebt eine kleine Nebenrolle an. Sie beeindruckt, wie ein Außenseiter in das Komplott einer geschlossenen Gruppe aufgenommen wird. Marie möchte ins musikalische Ensemble, sie bewundert den Mut und die Entschlossenheit des Plans in so gefährlichen Zeiten. Sarah will bei der Dramaturgie mitarbeiten. Sie ist fassungslos, wie skrupellos ein Einzelner aus Eigensucht einen ganzen Staat und ein ganzes Volk in den Untergang treiben kann. Das Thema sei so gesehen zeitlos aktuell. Julian ist noch unentschlossen, ob er als Dramaturg oder Schauspieler weitermachen will. Er meint: „In diesem Fall wäre der Mord aus Hoffnungslosigkeit legitim.“

Federführend begleitet das Projekt Lina Seditschka, die gerade im PKC ihr Freiwilliges Soziales Jahr absolviert. Sie selbst hat ihr Abitur am HLG gemacht und hätte bei der ursprünglichen Premiere die Rolle der Richterin übernommen. Sie fasziniert an dem Stück, wie Schauspiel und Geschichte sich miteinander verweben.

An drei Terminen im Juni 2021 sind Vorstellungen in Freudental geplant. Hier hat Julius Marx vor 50 Jahren seine letzte Ruhestätte auf dem jüdischen Friedhof gefunden. In seiner Heimat, so, wie er das gewollt hatte.