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„Mitarbeiter sind zuerst in Schockstarre“

Christian Gojowczyk kümmert sich auch um die seelischen Nöte von Menschen, denen ein Jobverlust droht. Foto: Holm Wolschendorf
Christian Gojowczyk kümmert sich auch um die seelischen Nöte von Menschen, denen ein Jobverlust droht. Foto: Holm Wolschendorf
Das Entsetzen unter der Belegschaft ist groß, als Mann+Hummel Ende Juli das Aus für die Produktion in Ludwigsburg erklärt. Betriebsseelsorger Christian Gojowczyk übt heftige Kritik am Management des Unternehmens.

Ludwigsburg. Die Schreckensnachricht kommt kurz vor der Ferienzeit: Der Filterspezialist Mann+Hummel kündigt an, dass er an seinem Ludwigsburger Stammsitz die Produktion komplett schließen wird und 400 Mitarbeiter ihre Arbeitsplätze verlieren. Sie trifft die Entscheidung völlig überraschend. Der katholische Betriebsseelsorger Christian Gojowczyk steht den Betroffenen in dieser schwierigen Lage zur Seite.

Herr Gojowczyk, was hat Sie am meisten empört, als die Geschäftsführung von Mann+Hummel den Stellenabbau angekündigt hat?

Christian Gojowczyk: Das Vorgehen, dass man sowohl die Mitarbeitervertretung und ihre Organe als auch die Belegschaft einfach mit einem als unverrückbar feststehenden Beschluss konfrontiert hat, der offensichtlich von Unternehmensverantwortlichen schon gefasst worden ist, ohne dass man die Pläne vorher mit der betrieblichen Interessensvertretung, gegebenenfalls auch mit der Gewerkschaft, in irgendeiner Form inhaltlich erörtert hat.

Ist das Mann+Hummel-Management dazu verpflichtet?

Ja, es gibt Verpflichtungen. Das Unternehmen leugnet derzeit, dagegen verstoßen zu haben. Laut gängigem, neutralem Standardkommentar zum Betriebsverfassungsgesetz muss das Unternehmen rechtzeitig und umfassend vor einer Entscheidung den Wirtschaftsausschuss und damit den Betriebsrat informieren und mit dem Gremium über die geplanten Veränderungen beraten. Das ist bei Mann+Hummel nicht erfolgt. Die Geschäftsführung hat gesagt, wir schließen die Produktion und sinngemäß hörten Beschäftigte, „macht euch keine Hoffnungen, dass sich daran etwas ändert“. Das ist aus meiner Sicht ein klarer Verstoß gegen Paragraf106 des Betriebsverfassungsgesetzes.

Wie hat der Betriebsrat reagiert?

Für die Leute war es so überraschend, mit völliger Hoffnungslosigkeit konfrontiert zu werden. Das ist eine schwierige Situation. Da kann auch ein Betriebsrat erst mal gar nichts sagen, denn der hat ja auch keine Informationen.

Kann die Arbeitnehmervertretung gegen das Unterlassen der Informations- und Beratungspflicht vorgehen?

Ein Verstoß gegen diese Verpflichtung ist eine bloße Ordnungswidrigkeit, die mit maximal 10000 Euro geahndet wird. Das preisen solche Unternehmen wie Mann+Hummel gerne in ihre Gesamtkalkulation ein. Das ist das Problem.

Suchen die betroffenen Mitarbeiter jetzt das Gespräch mit Ihnen?

Die meisten ziehen sich in einer ersten Reaktion zunächst einmal zurück. Sie reden untereinander. Zuerst ist eine Schockstarre da. Wenn Betroffene nach einem Weg suchen, um mit der Situation umzugehen, dann nutzen sie die Gelegenheit, mit mir zu sprechen, sei es in einer Sprechstunde oder bei einer Betriebsversammlung.

Wie gestalten sich solche Beratungsgespräche?

Oft sprudelt es aus den Betroffenen regelrecht heraus, vor allem bei langjährigen Mitarbeitern, weil sie eine starke Bindung an das Unternehmen haben. Für sie ist das Gefühl, vom Unternehmen einfach so überfahren worden zu sein, eine sehr problematische und schmerzhafte Erfahrung.

Was belastet die meisten Betroffenen besonders stark?

Das ist ganz unterschiedlich und hängt von der individuellen Situation ab. Bei langjährigen Mitarbeitern, die noch ein, zwei Jahre bis zur Rente haben, ist die wirtschaftliche Situation meistens geklärt. Die Kinder sind aus dem Haus, die Immobilie ist abbezahlt. Sie leiden oft sehr unter der Verletzung, dass das Unternehmen, dem sie wesentliche Teile ihres Lebens gewidmet haben, so mit ihnen umgeht.

Und bei jüngeren Mitarbeitern?

Bei den Mitarbeitern dieser Gruppe sind die wirtschaftlichen Dinge ganz häufig ein Problem, wenn sie gerade eine Familie gegründet oder eine Immobilie gekauft haben und vielleicht noch Alleinverdiener sind.

Welche Rolle spielt in einer solchen Situation die berufliche Qualifikation?

Je nach Ausbildung wird die Situation unterschiedlich erlebt. Wer angelernter Produktionshelfer ist, aber schon seit Jahren im Werk arbeitet, der hat Know-how und ist unter den Kollegen anerkannt. Beim Arbeitsamt sind sie angelernte Hilfsarbeiter. Sie landen dann unter Umständen bei einem Zeitarbeitsunternehmen und arbeiten für ein Drittel ihres bisherigen Lohns und haben auch nicht mehr den sozialen Status. Das ist für viele hochgradig problematisch.

Und wie ist die Lage bei Fachkräften?

Selbst Facharbeiter haben es auf dem Arbeitsmarkt in der Region Stuttgart nicht mehr so leicht und das nicht nur wegen der Coronakrise. Viele Unternehmen bauen im Zuge der Transformation in der Automobilwirtschaft Arbeitsplätze ab. Das trifft auch Ingenieure. Bosch AS in Bietigheim zum Beispiel schließt auch die Produktion.

Was raten Sie den Betroffenen?

Es ist wichtig, dass man offen damit umgeht, sowohl sich selbst als auch seinem unmittelbaren Umfeld gegenüber. Das ist im Fall von Mann+Hummel aber schwierig, weil es so wenige Informationen gibt. Die Betroffenen haben keinen Zeithorizont, keine Bedingungen. Sie wissen nur, dass sie ihren Job verlieren. Es gibt erstmals keine Perspektive, keine Alternativen. Diese Ungewissheit ist ganz schwer auszuhalten. Deshalb erzürnt mich das Vorgehen der Mann+Hummel-Geschäftsführung so sehr. Zudem ist es nicht so, dass das Werk irrsinnige Verluste macht, es laufen noch Produktionsserien. Man hätte noch Zeit für Gespräche gehabt und man hätte den Leuten nicht sagen müssen, eure Arbeitsplätze sind weg, ohne irgendwelche ergänzenden Informationen.

Sie sagen, die Situation sei für die Betroffenen schwer auszuhalten. Was sollen Sie tun?

Offen sein und sagen: Mich stresst das. Den starken Mann zu markieren, bringt nichts. Ich rate den Leuten auch immer, sich zu fragen, was verunsichert mich? Nach Jahren von einem Unternehmen vor die Tür gesetzt zu werden, das tut weh, das ist das eine. Es hilft, auch die wirtschaftliche Situation zu hinterfragen, und sich zu überlegen, ob man eine Schuldnerberatung braucht. Auch beruflich nicht überhastet reagieren, sondern erst, wenn klar ist, wie sich die Situation entwickelt. Es gibt keinen Zeitplan. Man weiß nicht, ob es eine Transfergesellschaft gibt. Gibt es Jobangebote aus anderen Werken? Kann ich mich fortbilden? Derzeit gibt es aber keine Orientierung für die betroffenen Mann+Hummel-Mitarbeiter. Das ist aber nicht das Verschulden des Betriebsrates.

Wie stark ist die Solidarität unter den Mitarbeitern bei Mann+Hummel?

Der Schock über das Vorgehen des Arbeitgebers schafft Solidarität. Ich erlebe die Belegschaft bei Mann+Hummel als sehr solidarisch. Da war schon im Jahr 2016 so, bei der letzten großen Entlassungswelle in der Blechkühlerproduktion. Damals wurden ausgerechnet um den Tag, als der neue Entwicklungsstandort in der Schwieberdinger Straße mit einer Feier eingeweiht wurde, die Kündigung von 121 Beschäftigten wirksam. Da entsteht das Gefühl, dass dem Arbeitgeber die Mitarbeiter egal sind. Das Werk hat zudem einen guten Organisationsgrad und die Leute wissen, dass sie sich auf die IG Metall verlassen können. Aber je länger die Leute im Ungewissen sind, um so schwieriger wird der Zusammenhalt.

Wie sollen sich Arbeitnehmer, denen die Kündigung droht, ihren Familien gegenüber verhalten?

So eine Situation kann nicht dauerhaft geheimgehalten werden. Es bringt sicherlich nichts, einem dreijährigen Kind zu erklären: Papa wird demnächst arbeitslos. Wenn man Kindern in einem Alter hat, die einen solchen Prozess nachvollziehen können, dann ist es sinnvoll, mit ihnen darüber zu reden, wenn man die Situation für sich geklärt hat. Über Einschränkungen sollte offen gesprochen werden. Eltern können schon sagen, wir verkaufen den Zweitwagen, weil wir sparen müssen.

Sie haben schon viele Betriebs- und Produktionsschließungen begleitet. Was ist die wichtigste Erfahrung, die Sie daraus gewonnen haben?

Ja, ich habe mich auch da um Beschäftigte gekümmert, zum Beispiel bei Nestlé in Ludwigsburg, Burkhardt Kunststoff in Ensingen, Salutas Pharma in Gerlingen oder Werzalit in Oberstenfeld. Bei Infopaq in Kornwestheim war ich selbst Betroffener und bin bis heute noch Betriebsrat im Restmandat, weil das Insolvenzverfahren nach sieben Jahren immer noch nicht abgeschlossen ist. Meine Erfahrung ist, dass es ungeheuer wichtig ist, einen engagierten und arbeitnehmerorientierten Betriebsrat zu haben, weil die Beschäftigten in einer solchen Krisensituation sonst weitgehend hilf- und orientierungslos sind. Auch die gewerkschaftliche Solidarität spielt eine große Rolle. Das Ausgeliefertsein ohne die Möglichkeit, bei einer Betriebsschließung in einer starken Gemeinschaft Rechte wahrzunehmen, ist eine besonders hässliche und schwierige Situation.